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Containern: Lebensmittelrettung im Strafrecht?

Zwei Studentinnen stehen heute vor dem Strafrichter am Amtsgericht Fürstenfeldbruck. Ihnen wird vorgeworfen, Lebensmittel aus dem Müllcontainer eines Supermarktes „entwendet“ zu haben. Wie ist das rechtlich zu bewerten?

Was ist Containern?

Gerade in Supermärkten fällt eine große Masse an Lebensmitteln an, bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten wurde und deshalb nicht mehr verkauft werden darf. Auch optisch nicht mehr schönes Obst und Gemüse wird rigoros aussortiert. Ein Weg, die Lebensmittelverschwendung zu minimieren, ist das sogenannte ‚Containern‘: Supermärkte werfen die aussortierten Lebensmittel in ihre Mülltonnen, die selbsternannten Lebensmittelretter holen die noch genießbaren Produkte wieder heraus. Allein in Deutschland werden laut einer Studie des WWF von 2015 jedes Jahr über 18 Millionen Tonnen an genießbaren Lebensmitteln vernichtet. Das entspricht fast einem Drittel des derzeitigen Nahrungsmittelverbrauchs hierzulande.

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Containern ist strafbar

Auch zwei Studentinnen aus Olching bei München stehen hinter der Lebensmittelverwertung durch das Containern. Allerdings könnte Containern gemäß §§ 242 ff. StGB wegen Diebstahls oder gemäß § 123 Abs. 1 StGB wegen Hausfriedensbruch strafbar sein. So lautete auch die zunächst von der Staatsanwaltschaft gewollte Anklage in diesem Fall: besonders schwerer Diebstahl gemäß § 243 StGB. Die Lebensmittel, die die Studentinnen aus den Mülltonnen holten, sollten einen (Neu-) Wert von 100 € haben. Der zunächst gestellte Strafantrag von Edeka wurde nach Anfeindungen in sozialen Netzwerken gegen den Marktleiter zurückgezogen. Auf ihrem eigens für diese Sache erstellten Internetblog berichten die beiden Angeklagten Franzi und Caro, dass sie bedauern aus welchen Motiven der Supermarkt den Strafantrag zurückgezogen hat. Nicht aus Gründen der Nachhaltigkeit und der Entkriminalisiserung des Containerns, sondern allein aufgrund der Anfeindungen.

„Bei uns wird jeder Diebstahl zur Anzeige gebracht“
Edeka Südbayern

Die Staatsanwaltschaft hält jedoch weiter an einer Verfolgung des Falls fest – offenbar unter Annahme eines besonderen öffentlichen Interesses. Ursprünglich waren in einem Strafbefehl 40 Tagessätze zu je 30 €, also ingesamt 1.200 € als Geldstrafe für jede Angeklagte gefordert. Mittlerweile steht eine Einstellung mit der Auflage von Ableistung von Sozialstunden bei der Tafel im Raum. Doch beide Studentinnen wollen einen Freispruch erreichen.

Anwalt geht von Dereliktion an den Lebensmitteln aus

Die Rechtslage ist durchaus umstritten. Bisher gehen jedoch nur Mindermeinungen von einer Straflosigkeit aus. So auch der Anwalt der beiden Studentinnen Max Malkus. Im Magazin für Restkultur erörtert er die Dereliktion an den weggeworfenen Lebensmitteln und spricht sich für eine Straflosigkeit aus. Doch die herrschende Meinung geht weiterhin mit dem Abfallrecht von einer Eigentümerstellung bei den Supermärkten aus. Ein Diebstahl an diesen Lebensmitteln ist daher weiterhin möglich. Die bisherige Rechtsprechung hat sich dazu noch nicht eindeutig bekannt. Sämtliche Verfahren wurden ohne oder gegen Auflagen wegen fehlendem öffentlichen Interesse oder wegen geringer Schuld eingestellt.

Ein möglicher Hausfriedensbruch würde nur auf Antrag verfolgt werden. Es handelt sich gemäß § 123 Abs. 2 StGB um ein absolutes Antragsdelikt.

Eine Gesetzesänderung wird gefordert

Mit einer gestarteten Petition, die die Studentinnen auf ihren Blog online gestellt haben wollen sie die Bewegung für eine Gesetzesänderung stärken. Es gibt bereits einige Initiativen, die ein politisches Umdenken beim Thema Lebensmittelverschwendung und eine Gesetzesänderung fordern. Auch eine EU-weite Petition haben sie unterstützt. Der EU-Kommission wurden bereits 1,2 Millionen Unterschriften vorgelegt und eine Lösung angelehnt an die französische Gesetzeslage gefordert. Dort ist es seit 2016 den Supermärkten verboten noch genießbare Lebensmittel einfach zu entsorgen. Diese müssen gespendet oder verteilt werden.

Mit einem Freispruch ist heute freilich nicht zu rechnen, es wird also auf eine Einstellung des Verfahrens hinauslaufen. Damit wäre das Strafverfahren beendet.


BGH: Kompensationsverbot im Umsatzsteuerstrafrecht

Nach 40 Jahren ändert der für das Steuerstrafrecht zuständige 1. Strafsenat am Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zum Kompensationsverbot bei der Umsatzsteuerhinterziehung, die seit längerem schon nicht mehr nachvollziehbar war.

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Vorsteuern können bei der Ermittlung des Verkürzungsumfangs unmittelbar mindernd angesetzt werden, wenn ein wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen Ein- und Ausgangsumsatz besteht. (Foto: Marco Rullkoetter/shutterstock)

Bisherige Rechtslage zum Kompensationsverbot

Wird von einem Unternehmer die Abgabe der Steuererklärung unterlassen, so verschuldet er damit grundsätzlich die nicht rechtzeitige Festsetzung der Steuern.

Bisher hatte der BGH in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass in solchen Fällen die auf die Ausgangsrechungen entfallenden Vosteuerbeträge unbeachtlich sind.  Damit wurde ein innerer wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen der auf die eigenen Umsätze entfallenden Umsatzsteuer und den abziehbaren Vorsteuern vom BGH abgelehnt. Es sollten nur Steuervorteile im Falle einer Steuerverkürzung angerechnet werden, die sich aus der unrichtigen Erklärung selbst ergeben. Lediglich für Werbungskosten beziehungsweise für Ausgaben in unmittelbarer Verbindung mit dem steuerbegründenden Geschäft im Ertragssteuerrecht erkannte der BGH auf einen solchen Zusammenhang.

Rechtsprechungsänderung nach über 40 Jahren

Mit dem Urteil vom 13. September 2018 nun die Änderung: Der BGH erkannte, dass die Nichterklärung der Umsatzsteuer des Ausgangsumsatzes regelmäßig auch die Nichtgeltendmachung des bestehenden Vorsteueranspruchs aus dem Eingangsumsatz nach sich zieht. Somit entsteht der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz. Damit hat der BGH seine umstrittende Rechtsprechung zumindest für Fälle geändert, in denen die steuerpflichtige Ausgangsleistung eine tatsächlich durchgeführte Lieferung war und die verwendeten Wirtschaftsgüter unter den Voraussetzungen des § 15 UStG eworben worden sind. Die Vorlage einer Eingangsrechnung muss dabei aber explizit „im maßgeblichen Besteuerungszeitraum“ gegeben sein.

Mit diesem Urteil mindert der BGH den Verkürzungsumfang bei bestehendem wirtschaftlichen Zusammenhang zugunsten des Steuerpflichtigen deutlich. Was sich im Ergebnis auch erheblich auf die zu erwartende Strafe auswirkt. Ausdrücklich offengelassen hat der 1. Strafsenat jedoch, ob diese Nichtanwendbarkeit des Kompensationsverbots für alle Fälle der Steuerhinterziehung durch Unterlassen der Erklärungsabgabe gilt.

BGH, Urt. v. 13.09.20181 StR 642/17


Erstes Urteil zum sogenannten Stealthing

Im Dezember verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten einen 37-jährigen Bundespolizisten zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung, weil er heimlich das Kondom beim Geschlechtsverkehr entfernte. Zudem muss er 3.095,59 Euro an das Opfer zahlen. Dieses Urteil ist deutschlandweit vermutlich das Erste in einem Fall zum sogenannten Stealthing.

„Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Gericht schon mal darüber entschieden hätte“

Die Gerichtssprecherin des AG Berlin-Tiergarten

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Was ist Stealthing?

Stealthing beschreibt das heimliche Abziehen des Kondoms beim sonst einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Allerdings muss die Verwendung eines Kondoms zur Bedingung für den Geschlechtsverkehr gemacht werden. Mithin ist das Abziehen nicht mehr von dem Einvernehmen gedeckt. Im vorliegenden Fall hatten der 37-jährige Verurteilte und die 21-jährige Polizeimeisteranwärterin zwar einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, der Verurteilte hatte jedoch im weiteren Verlauf des Beischlafs heimlich das Präservativ abgezogen und den Geschlechtsverkehr fortgesetzt. Für die 21-Jährige war das Benutzen eines Kondoms Bedingung für den sexuellen Kontakt.

Gericht: Keine Vergewaltigung

Vor dem AG Berlin-Tiergarten musste sich der 37-Jährige wegen eines sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB verantworten. Eine Vergewaltigung sah das Gericht nicht in dieser Handlung, denn der Geschlechtsverkehr an sich war einvernehmlich. Fraglich war folglich, ob sich daran etwas ändert, wenn das zur Bedingung gemachte Kondom fehlt. Das AG Berlin-Tiergarten hat hier eine Entscheidung zur äußerst schweren Abgrenzung der Einvernehmlichkeit von sexuellen Handlungen treffen müssen. Laut den Ausführungen des Gerichts bleibt diese Einvernehmlichkeit auch bestehen, wenn im weiteren Verlauf des Geschlechtsverkehrs dann heimlich das Kondom abgezogen wird. Lediglich das Abziehen war in diesem Fall nicht von dem Einverständnis der 21-Jährigen gedeckt. Daher sah das Gericht auch nur eine Strafbarkeit in der Handlung des Abziehens des Kondoms an sich und nicht in der Penetration selbst.

Nein heißt Nein?

Vor dem Hintergrund der „Nein-heißt-Nein“-Debatte ist dieses Urteil diskussionswürdig und umstritten. Im vorliegenden Fall war gerade der Geschlechtsverkehr ohne Kondom nicht vom Einverständnis der 21-Jährigen gedeckt. Denn im Zuge der Neuregelung des § 177 StGB ist nur noch der entgegenstehende Wille des Opfers entscheidend. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.


Wie hätten Sie geurteilt?

Einmal Richter spielen und selbst Urteile fällen. Zumindest in sieben digitalen Sachverhalten ist das nun im Rahmen der ARD Themenwoche möglich. Es geht um das Thema Gerechtigkeit. Alle interessierten User bekommen nacheinander sieben Sachverhalte präsentiert, welche inhaltlich eine strafbare Handlung darstellen. Anschließend sind eine Reihe Anhaltspunkte wie Vorstrafen und Verdienst angegeben, um eine Strafzumessung möglich zu machen. Zu guter Letzt sind eine Reihe von Bestrafungen zur Auswahl vorgegeben. Diese erstrecken sich von erziehenden Maßnahmen wie gemeinnützige Arbeit über verschieden hohe Geldstrafen bis hin zu unterschiedlich langen Freiheitsstrafen. Direkt im Anschluss erscheint ein Diagramm wie andere User in diesem Fall entschieden haben aber auch wie Berufsrichter und Staatsanwälte sie Sachlage beurteilen.

Doch wozu das Ganze? Hintergrund ist das Forschungsprojekt „Strafkulturen auf dem Kontinent – Frankreich und Deutschland im Vergleich“. Durchgeführt wird dieses von einem Team aus deutschen und französischen Wissenschaftlern. Ziel des Projektes ist ein Vergleich zwischen professionellen Rechtsanwendern und juristischen Laien sowie die Ausarbeitung der Unterschiede zwischen den Urteilen der teilnehmenden User. Freiwillig können Geschlecht, Alter und PLZ abgesendet werden, um entsprechende Auswertungen zu ermöglichen.

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Im Namen des Users – ARD Themenwoche Gerechtigkeit Foto: sebra/shutterstock

Urteilsfindung der User – So unterscheidlich fallen die Ergebnisse aus

Die Auswertungen der Themenwoche aus dem November sind bereits online zu finden und zeigen anschaulich wie unterschiedlich die User entschieden haben. Regional zeigt sich insgesamt kein einheitliches Bild. Sowohl harte als auch milde Urteile sind im ganzen Bundesgebiet zu finden. Lediglich der Stadt-Land-Vergleich zeigt, dass die Urteile milder ausfallen je größer die Stadt ist. Deutlich wurde dies gerade bei Fällen zur Beamtenbeleidigung und Marihuana-Handel. Auch eine eindeutige Abgrenzung zur Milde oder Härte im Alter bleibt aus. Hier kommt es ebenso auf das einzelne Delikt an. Zum Nachlesen regt auch die Auswertungen der Urteile von Männern und Frauen ein. Einen Ladendiebstahl bestrafen Frauen milder, während Männer bei einer Alkoholfahrt weniger hart urteilen. Kein Verständnis für häusliche Gewalt besteht bei beiden Geschlechtern, wobei Frauen nur in diesem Fall prozentual häufiger eine Freiheitsstrafe über einem Jahr fordern als Männer.

Interessante Werte zeigen sich im Hinblick der Strafzumessung bei vorbestraften Tätern. Insgesamt fallen die Urteile zum gleichen Sachverhalt bei bestehenden oder nichtbestehenden Vorstrafen zwar unterschiedlich aus. Jedoch ergibt sich gerade bei einem Ladendiebstahl ein deutliches Bild. Während die User hier noch immer an erzieherischen Maßnahmen festhalten, beurteilen Berufsrichter und Staatsanwälte die Sachlage anders. Die Sanktionen fallen in diesen Fällen deutlich härter aus als die der Hobby-Richter.

Forscherteam sammelt weiterhin die Urteile der User

Mitmachen ist immer noch möglich. Auch weiterhin sammelt das Forschungsteam die Urteile von Hobby-Richtern. Natürlich ist eine Teilnahme auch ohne die Datenerhebung möglich. Sicherlich eine spannende Angelegenheit, um sich einmal mit Berufsrichtern und Staatsanwälten aber auch mit anderen Usern vergleichen zu können. Wie hätten Sie geurteilt?


Urteilsentwürfe des Tatgerichts im Strafprozess


Am 06.11.2018 berichtete LTO von einem Vorgang, der sich in Hamburg zutrug: Ein Angeklagter hatte bei der Durchsicht der Ermittlungsakten, vor der Hauptverhandlung, in einer Seitentasche Notizen des mit der Sache befassten Richters zur Person des Angeklagten, zu den Beweismitteln und zum Verfahrensablauf entdeckt. 
Ferner befanden sich in den Unterlagen „ein handschriftlich beschriebener Zettel mit Details zum vermeintlichen Tathergang und ein formularartiges Blatt mit einem computerschriftlichen Unterpunkt ‚Urteilsverkündung’“ mit der handschriftlichen Notiz „§ 316 b FS bis 5 J. oder Geldstra“.

Der Angeklagte stellte daraufhin ein Befangenheitsgesuch, welches abgelehnt wurde. Als Begründung wurde auf ein obiter dictum des 1. Strafsenates des BGH von 2004 verwiesen:

„Den Berufsrichtern ist es unbenommen, sich […] durch die Fertigung eines Votums (Urteilsentwurfs) entsprechend dem jeweiligen Ermittlungs- bzw. Verfahrensstands (sic!) auf die Hauptverhandlung bzw. die Urteilsberatung vorzubereiten“.

Der Gerichtssprecher teilte mit, dass im vorliegenden Fall zwar Notizen angefertigt worden seien; wenn der BGH allerdings (ganze) Urteilsentwürfe erlaube, könne das betreffende Vorgehen des Hamburger Richters folglich rechtlich nicht bedenklich sein.

Dieser Vorfall gibt Anlass, sich der Frage nach der Gesetzeskonformität von Urteilsentwürfen im Strafprozess anzunehmen. Die Problematik, die zur Erhitzung der (juristischen) Gemüter führt, liegt auf der Hand: Es geht um die – potentielle – Vorverurteilung eines Angeklagten durch denjenigen Richter, der über den ihm gemachten Tatvorwurf zu entscheiden hat.

Die Position der Rechtsprechung

Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist der einhelligen Auffassung, dass Urteilsentwürfe, ganz gleich zu welchem Zeitpunkt sie verfasst werden, keine Gesetzesverletzung darstellen; sie würden auch nicht die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Schließlich würden solche Entwürfe „unter dem Vorbehalt gefertigt werden, dass die Verhandlung oder weitere Verhandlung keine Gesichtspunkte ergibt, die zu einer abweichenden Entscheidung zwingen.“ Diese Praxis sei nicht nur unproblematisch, sie diene gar einer „Richtigkeitskontrolle dahingehend, dass sich die Beweisaufnahme auf alle erheblichen Tatsachen und Beweise erstreckt“ und der Verfahrenskonzentration.

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Befangenheit? Urteilsentwürfe des Tatgerichts im Strafprozess Foto: kelifamily/stock.adobe.com

Urteilsentwürfe: Zur Terminologie

Doch was heißt „Urteilsentwurf“ genau? Der BGH nimmt weder eine Differenzierung dahingehend vor, zu welchem Zeitpunkt ein solcher gefertigt wird, noch wie dieser ausgestaltet ist.

Es lässt sich nur schwerlich festlegen, ab welchem Grad der Ausgestaltung, ab welcher Form, ein solches Papier rechtlichen Bedenken begegnet. Die Praxis der Gerichte bei der Entscheidungsfindung und Urteilsabfassung ist selbstredend – vor dem Hintergrund der richterlichen Unabhängigkeit – nicht einheitlich. Es lassen sich aufgrund der zahlreichen Möglichkeiten, wie ein Urteil zustande kommt, nicht alle Fallgruppen behandeln. Auf einfache Formalia kann es jedenfalls nicht ankommen; schwierig wird es jedenfalls dann, wenn Detailfragen im Raume stehen.

In diesem Beitrag wird davon ausgegangen, dass ein Urteilsentwurf zumindest den Tenor und die Urteilsgründe umfasst.

Mögliche Verstöße

Gegen die oben dargestellte klare Meinung der Rechtsprechung tun sich einige Zweifel auf. Namentlich kommen Verstöße gegen Art. 103 Abs. 1 GG und gegen § 261 StPO in Betracht; zudem könnte ein Ablehnungsantrag des Angeklagten gem. § 24 Abs. 1, 2 StPO begründet sein.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG

Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat die Zwecke des Anspruchs auf rechtliches Gehör klar bezeichnet: Er soll eine „objektive, faire Verhandlungsführung“ durch die richterliche „unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung“ des Vorbringens des Betroffenen sicherstellen. Das Gericht muss hierfür die Äußerungen des Betroffenen berücksichtigen, also in seine Erwägungen einbeziehen.

Die Rechtsprechung behauptet zwar, sie würde neuen Argumenten offen gegenüberstehen, allerdings sprechen schon psychologische Gesichtspunkte, wie der Inertia-Effekt, gegen dieses angenommene Ideal. Der Richter wird – ohne jegliche Bösartigkeit – unterbewusst nur schwerlich offen sein für neue Gesichtspunkte, die seinem Urteilsentwurf entgegenstehen. Je mehr Aufwand er für das Verfassen seines Entwurfes betrieben hat, desto mehr wird das wohl gelten.

Dem lässt sich zwar entgegenhalten, dass ein Richter durch seinen Urteilsentwurf gut vorbereitet und damit „seiner selbst und der Sache sicher […] den Beteiligten offener“ zugewandt ist, als ein Richter, der durch mangelnde Vorbereitung dem Vorbringen des Angeklagten abweisend gegenübersteht. Allerdings wird hier außer Acht gelassen, dass eine gute richterliche Vorbereitung sich nicht zwingend in der Fertigung eines Urteilsentwurfes äußert. Das Gericht könnte auch ein Gutachten anfertigen, in welchem die für das Verfahren relevanten tatsächlichen und rechtlichen Fragen erörtert werden. Dass ein solches Gutachten wegen der Überlastung der Justiz aus zeitlichen Erwägungen unpraktikabel ist, darf sich nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken und darin münden, dass zugunsten der Verfahrensökonomie auf Urteilsentwürfe zurückgegriffen wird. Auch hinsichtlich der Verteidigungsrechte und -möglichkeiten des Angeklagten erscheint es zweifelhaft, das Fertigen von Urteilsentwürfen zu tolerieren, da dieser sich veranlasst fühlen könnte, seine Verteidigung zumindest zu reduzieren, weil er davon ausgeht, dass sein Schicksal „bereits beschlossen“ ist. 

Ganz unabhängig von diesen rechtlichen Bedenken, wird ein Beschwerdeführer ohnehin große Schwierigkeiten haben, die von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geforderte Evidenz der Gehörsverletzung nachzuweisen.

Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit, § 24 Abs. 1, 2 StPO

Während bei der Frage nach einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG auf einen objektiven Maßstab abgestellt wird, kommt es bei § 24 Abs. 1, 2 StPO auf die subjektive Sicht eines vernünftigen Angeklagten an.

Das Recht der Ablehnung des Richters soll den unparteilichen und unvoreingenommenen gesetzlichen Richter garantieren. Misstrauen in dessen Unparteilichkeit ist gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung eingenommen hat, die besorgen lässt, dass die erforderliche Neutralität und innere Distanz negativ beeinflusst sein könnte.

Die Rechtsprechung verneint in Fällen von Urteilsentwürfen einen Schluss auf Vorverurteilung und Befangenheit. Sie legt damit einen allzu objektiven Maßstab an. Es mag zwar sein, dass der Richter nicht vorverurteilend ist, allerdings erweckt er, aus der Sicht des Angeklagten, den Eindruck, dass er sich hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme festgelegt hat. Diesen Eindruck wird auch ein vernünftiger Angeklagter haben dürfen. Es ist fehlerhaft, einen Laien in die Lage eines Juristen zu versetzen und von ihm das Verständnis dafür zu erwarten, ein Urteilsentwurf sei keine Vorverurteilung.

Der BGH hat zudem oftmals in deutlich „milder“ gelagerten Fällen die Richterablehnung als begründet angesehen. Es ist, auch aufgrund der unübersichtlichen Kasuistik, nicht problemlos feststellbar, weshalb im Falle von Urteilsentwürfen ein augenscheinlich strengerer Maßstab für die Ablehnung angelegt wird. Das ist insbesondere aus Sicht eines Angeklagten problematisch.

Überzeugungsschöpfung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung, § 261 StPO

Weiteres Konfliktpotential könnten Urteilsentwürfe mit Blick auf eine die Hauptverhandlung bestimmende Grundsatznorm bieten: Der § 261 StPO normiert nicht nur die freie richterliche Beweiswürdigung, sondern auch das Gebot, die gerichtliche Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen.

Das zentrale Argument des BGH gegen einen Verstoß ist die „vorläufige Meinungsbildung“ des Gerichts. Die richterliche Überzeugungsbildung beginne eben nicht erst nach dem letzten Wort des Angeklagten. Es sei denklogisch, dass der Richter schon frühzeitig „eine Meinung von der Schuld des Angeklagten“ gewinne. Diese sei „aber nur eine vorläufige Meinung, die […] aufgrund der weiteren Verhandlungsvorgänge bis zuletzt ständig“ einer Überprüfung unterliege und ggfs. wieder aufgegeben werde.

Es wäre nicht nur lebensfremd davon auszugehen, dass Richter dazu in der Lage sind, sich über eine Strafsache – zumindest nach dem ersten Aktenstudium – keine vorläufige Überzeugung zu bilden. Die Strafprozessordnung setzt gar eine vorläufige Überzeugung des Richters voraus. Sie billigt dem Richter gewissermaßen ein gesetzlich hingenommenes Maß an Befangenheit zu; zumindest aber duldet sie eine Befangenheitsgefahr – vgl. nur die Existenz von § 244 Abs. 3 StPO, § 244 Abs. 5 StPO, § 112 StPO und § 257b StPO.

Es mag zwar auf den ersten Blick eigentümlich anmuten, dass ein Urteilsentwurf nicht gegen § 261 StPO verstößt, doch es wäre nicht plausibel, die Existenz einer vorläufigen Überzeugungsbildung zu verneinen oder zu verbieten, wenn zeitgleich ebensolche im Gesetz zwingend vorausgesetzt wird.

Besonderheit Einzelrichter

All diese Problematiken betreffen selbstredend nicht nur das Kollegialgericht, sondern auch den Einzelrichter. Die rechtlichen Bedenken, die Urteilsentwürfen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG anhaften, gewinnen gar an Gewicht, wenn nur eine Person auf der Richterbank Platz nimmt. Der Einzelrichter unterliegt nämlich keiner Kontrolle durch Kollegen, die einen möglichen Gesetzesverstoß „abwenden“ könnten. Es liegt auf der Hand, dass ein Einzelrichter, dem kein Kollege in seine Meinung und in seinen Urteilsentwurf „reinredet“, eher Gefahr läuft, sich auf seine Erwägungen zu versteifen und gegenläufige Argumente abzutun. Er ist damit einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG noch näher.

Zusammenfassung

Resümierend ist festzustellen, dass Urteilsentwürfe insgesamt nicht nur einen faden Beigeschmack hinterlassen, sondern auch im Hinblick auf das Recht zu Zweifeln veranlassen. Bereits aus psychologischen Erwägungen liegt der Gedanke nahe, dass Urteilsentwürfe gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Dies gilt vor allem für den Einzelrichter, der keiner Kontrolle durch Richterkollegen unterliegt und daher noch mehr Gefahr läuft, sich Gegenargumenten zu verschließen. Allerdings wird die verfassungsgerichtlich geforderte Evidenz der Gehörsverletzung den Beschwerdeführer scheitern lassen, einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG erfolgreich darzulegen.

Ein Verstoß gegen § 261 StPO lässt sich guten Grundes nicht annehmen, denn die Strafprozessordnung verlangt von dem Richter sogar eine vorläufige Überzeugungsbildung, damit dieser seine verfahrensrechtlichen Aufgaben tauglich wahrnehmen kann.

Allerdings liegen regelmäßig Gründe für die Ablehnung des Richters vor, § 24 Abs. 1, 2 StPO, weil der vernünftige Angeklagte den Eindruck gewinnen darf, der Richter habe sich hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme bereits festgelegt.


Die Autoren Robert F. Feist und Sina Aaron Moslehi sind Studenten der Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg und haben ihr strafrechtliches Schwerpunktbereichsstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Dieser Beitrag ist ursprünglich in einer Langfassung als Aufsatz im Februar 2018 in den HAMBURGER RECHTSNOTIZEN erschienen.