Nicht selten erlebt man vor Gericht, dass Zeugen plötzlich unter erheblichen Erinnerungslücken leiden: Während sie in der polizeilichen Vernehmung noch detailliert zu berichten wussten, ist in der Hauptverhandlung mitunter alles irgendwie vergessen – man könnte dies wohl treffend als eine Art „Gerichtsamnesie“ beschreiben, für die es aber keine medizinische Klassifikation gibt1.
Der Notausgang sind vermeintliche Erinnerungslücken
Das Phänomen betrifft regelmäßig vorwiegend Zeugen, die einen anderen (mitunter auch sich selbst) nicht belasten wollen und dann den Notausgang in ein „subjektives“ Vergessen wählen. Teilweise berichten Zeugen auch direkt zu Beginn ihrer Aussage, sie könnten sich an gar nichts mehr erinnern, noch bevor ihnen überhaupt eine konkrete Frage gestellt wurde. Professionell am Strafverfahren Beteiligten, also Staatsanwälten oder Strafverteidigern, aber natürlich auch den Richtern treibt ein solch plumper Versuch bereits den Blutdruck in bedenkliche Höhen.
Wer meint, seine „Vergesslichkeit“ als Notausgang benutzen und sich davonstehlen zu können, liegt falsch. Wer bei der Zeugenbelehrung (§ 57 Abs. 2 StPO) des Richters aufmerksam zugehört hat, weiß, dass nicht nur die unrichtige, sondern auch die unvollständige Aussage zu strafrechtlichen Konsequenzen führen kann. Als unvollständig kann man auch eine Aussage begreifen, die durch vermeintliches Vergessen unvollständig ist und eben nicht dem entspricht, was der Zeuge tatsächlich zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen könnte. Das Verschweigen steht insofern dem Belügen gleich2 – und der Einzige, der vor Gericht lügen darf, ist der Angeklagte.
Spontane Gerichtsamnesie: Vergessen ist heilbar
Es liegt dann beim Vorsitzenden Richter, diese spontane Gerichtsamnesie genauer zu beurteilen und insbesondere zu untersuchen, ob die Aussage, dies oder jenes vergessen zu haben, auch glaubhaft ist. Unter Umständen wird er ähnlich eines Zahnarztes beharrlich nachbohren, und die Erinnerung auf wundersame Weise Stück für Stück zurückholen. Nicht selten verstricken sich Zeugen bei dieser Gelegenheit in Widersprüche, das Gebilde von „Notlügen“ droht in sich zusammenzubrechen – nicht selten stehen derartige Zeugen wegen dieser falschen Aussagen bereits mit einem Bein in ihrem eigenen Strafverfahren. Lediglich die Tatsache, dass der Richter ihn durch seine Beharrlichkeit wieder auf den rechten Weg zurückbringt, schützt den Zeugen vor der Strafverfolgung wegen dieser Aussagedelikte.
Zeugnisverweigerungsrecht für Angehörige
Häufig muss es soweit aber gar nicht kommen: Das Strafprozessrecht gesteht Angehörigen ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, um der Zwangslage des zur Wahrheit verpflichteten Zeugen entgegenzutreten, der befürchten muss, durch eine belastende Aussage dem nahen Angehörigen zu schaden. Wer berechtigt ist, das Zeugnis zu verweigern, ergibt sich aus § 52 StPO.
Teilweise spielen sich als Folge des Zeugnisverweigerungsrechts durchaus erheiternde Episoden vor Gericht ab: Der Angeklagte und dessen Freundin, die als Zeugin aussagen soll, haben sich am Abend vor Prozessbeginn „verlobt“. Recht schnell folgt dann die Frage, wie lange man denn schon zusammen sei. Kommt dann als Antwort „mmh, 2 Wochen?“ schließt sich regelmäßig ein Monolog des Richters über die Bedeutung eines Verlöbnisses als Eheversprechen3 an.
Aussageverweigerungsrecht zur Wahrung der Selbstbelastungsfreiheit
Vom Zeugnisverweigerungsrecht zu unterscheiden ist das Auskunftsverweigerungsrecht, das es dem Zeugen ermöglicht, auf solche Fragen nicht antworten zu müssen, durch die er sich selbst belasten würde. Ausreichend dafür ist, dass ihm selbst oder einem Angehörigen des § 52 StPO die Gefahr von Ermittlungen wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit drohen würde. Nicht vergessen sollte man dabei allerdings, dass der Staatsanwalt schon die Ohren spitzen würde, wenn ein bislang mit der konkreten Straftat nicht in Verbindung stehender Zeuge plötzlich davon spricht, sich selbst nicht belasten zu wollen und deshalb die Aussage verweigere.
- Bei der Bezeichnung als „spontane Gerichtsamnesie“ handelt es sich um eine Wortschöpfung des Verfassers, für den umgehend Titelschutz geltend gemacht und eine Eintragung in die internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) beantragt wird. [↩]
- a.A. Vormbaum, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB (4. Aufl. 2013) § 153 Rn. 96 ff. [↩]
- Als Verlöbnis wird ein gegenseitiges Eheversprechen bezeichnet, also schlicht und völlig unromantisch betrachtet ein Vertrag, mit dem sich zwei Personen versprechen, künftig die Ehe miteinander einzugehen. [↩]
Im Punkto Zwangseinweisung in eine Psychiatrie gibt es keine Zeugen und auch keine Beobachter – meist wird zu diesem Zweck die Verhandlung sogar hinter die verriegelten Türen der Psychiatrie verlegt. Die Aussagen des Anzuhörenden sind völlig unwichtig und werden nicht mal wahrgenommen. Es gilt nur der Wunsch oder besser die ärztlichen Gesichtspunkte – wobei letztere sogar die Macht haben, Gesetze auszuhebeln. Eine zu diesem Zweck erfundene herabsetzende und entwürdigende Verurteilung durch Psychiater zu deren eigenen Nutzen ohne Untersuchungen und ohne Beweise – ist immer ausreichend dafür, einen Menschen lebenslänglich foltern zu dürfen, oder ihn gar chemisch oder elektrisch hinzurichten. Wobei der Totenschein auch noch von den Psychiatern oder gläubigen Zuhältern ausgestellt wird.
Justiz ist nur eine Scharade, ein Gaudi, eine Theatervorstellung für naive Neulinge.
Meine Standardfrage zum „Aussageverweigerungsrecht zur Wahrung der Selbstbelastungsfreiheit“:
Darf ich nicht aus o.g. Grund jede Aussage zu Vorgängen/Erlebnissen verweigern, die ich nicht beweisen (Schriftstück/Tonaufnahme/Video/???) kann?
Falls ‚man‘ zum Schluss kommt, meine Aussage sei unglaubwürdig und (deswegen) unwahr dann habe ich mich ja „nach Überzeugung des Gerichtes“ strafbar gemacht.
Oder nicht?
@Gast: Nein, es ist als Zeuge nicht Ihre Aufgabe, irgendetwas beweisen zu müssen. Ihre Aufgabe ist lediglich, ihre Erlebnisse dem Gericht zu schildern. Um alles andere kümmert sich dann die Prozessbeteiligten.
@Strafakte.de: Wie korrespondiert das mit der Aussage des Marcus05* kurz oberhalb Ihres Posts im lawblog?
*“Für die wahre Aussage, er könne sich an keinen Unfall erinnern, hat ein Gericht in Mittelfranken einen LKW-Beifahrer 25 Tage eingesperrt. Es stellte sich später heraus, als die Lackspuren am Unfallfahrzeug tatsächlich ausgewertet waren, dass der angeklagte LKW-Fahrer unschuldig sein muss, da die Lackspuren nicht von seinem LKW kamen. Das half alles nichts, denn der Richter war sofort davon überzeugt, dass der Zeuge lügt, und sperrte ihn einfach so ein.“
@Gast: Ich kenne den Fall nicht und ob das überhaupt so stattgefunden hat. Ansonsten ein Einzelfall, der sich nicht verallgemeinern lässt.
@Marcus05: Vielen Dank!
Und/aber was lernen wir wieder einmal daraus? Sprich nie mit der Polizei!
Nie im Sinne von gar nie und nimmer nicht und nichtmal einen „Guten Tag“!!
@Strafakte.de: Naja. Ich habe den OP mal um eine Quelle gebeten.
Generell vergessen Sie IMHO die „Überzeugung des Gerichtes“. Der misstraue ich zutiefst. Was dazu führt, dass ich die Aussage zu jedem Sachverhalt verweigern werde, den ich nicht beweisen kann.
Es sei denn, mir wird schriftlich (zu meinen Händen, das Prozessprotokoll ist ja wohl ein schlechter WITZ) Straffreiheit für meine Aussagen zugesagt.
Das wird das Gericht nicht machen, also verweigere ich, um mich nicht dem Risiko auszusetzen, mich mit meiner Aussage der Strafverfolgung auszusetzen.
Fragen?
@Strafakte.de:
Zitierter OP Hier
http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.nuernberg-unschuldig-in-u-haft-aber-justiz-laesst-nicht-locker.a790fa26-fc85-4a18-86a8-55346b257281.html
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/landgericht-muenchen-i-zeuge-in-handschellen-abgefuehrt-a-1101639.html
Wenn es gegen die Stadtverwaltung oder Staatsangestellte geht – dann muss und darf der Kläger selbst nicht mal anwesend sein – und der Zeuge wird geradezu animiert durch entsprechende Fragestellungen, seine Aussagen zugunsten der Staatsangestellten zu modifizieren – denn schließlich ist er selbst in abhängiger Position. Genau das habe ich erlebt. Ein Rechtsanwalt ist an seinem Einkommen interessiert -und das bekommt er sowieso – auch wenn sein Mandant verliert.
Was für ein ausgemachter Blödsinn… Wenn das ihre tatsächliche Auffassung ist, unterschreibe ich sofort eine zumindest mittelfristige Beobachtungszeit in einem schönen, von parkähnlichen Anlagen und einem hohen Zaun umgebenen staatlichen Einrichtung.
Nur interessehalber… Bei wievielen chemisch oder elektrisch durchgeführten Hinrichtungen waren sie Zeuge?