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Die Schwächen der Strafverfolgung im Sexualstrafrecht

Es war ein Satz in einem Artikel von Roland Preuß auf Sueddeutsche.de, der gestern nicht nur in den sozialen Netzwerken die Gemüter erhitzte:

„Man kann nicht ernsthaft unterstellen, dass Frauen eine Vergewaltigung erfinden.“

Mittlerweile ist der Satz dort nicht mehr so zu lesen. Eine derartige Verallgemeinerung ist ausgesprochen naiv, besagt sie doch, dass Frauen nie eine Vergewaltigung erfinden würden. Die Realität ist leider eine andere.1

Vorab ist klarzustellen, dass sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung hier keineswegs verharmlost werden sollen oder gar unterstellt, dass Falschbeschuldigungen die Regel wären. Es ist auch unbestritten, dass viele Frauen sich immer noch davor scheuen, die Tat anzuzeigen und die Dunkelziffer der nicht angezeigten Taten dadurch sehr hoch ist. Durch die in dem Artikel erwähnte Studie zu Vergewaltigungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) wird jedoch eine Sachlage suggeriert, die nur bedingt richtig sein kann.

Mehr Strafanzeigen im Sexualstrafrecht, aber weniger Verurteilungen

Die statistische Feststellung zu Beginn gibt in der Tat Anlass zur Besorgnis:

Eine bundesweite Analyse zur Strafverfolgung der Vergewaltigung zeigt einen klaren Trend: Vor 20 Jahren erlebten 21,6 Prozent der eine Anzeige erstattenden Frauen die Verurteilung des Täters. 2012 waren es nur noch 8,4 Prozent.

Auch der Befund, dass zwischen den einzelnen Bundesländern erhebliche Unterschiede in der Einstellungsquote bestehen, lässt – die Richtigkeit des Ergebnisses unterstellt – deutliche Probleme zutage treten. Danach soll die Verurteilungsquote in den einzelnen Bundesländern von 4,1% bis 24,4% variieren, was bedeuten würde, dass in einem Bundesland jede 4. Strafanzeige wegen Vergewaltigung zu einer Verurteilung führt, in anderen nur jede 25.

Die Erklärungsversuche für diesen Befund sind allerdings vage bis nicht tragfähig:

Je größer die Arbeitsbelastung der zuständigen Polizeibeamten, Staatsanwälte und Gerichte ausfällt, desto seltener enden die Strafverfahren mit einer Verurteilung des Täters.

Das mag so sein. Richtig dürfte auch die Untersuchung des Einflusses der BGH-Rechtsprechung auf die Verurteilungsquote sein, allerdings nicht wie ihn das KFN anhand einer Entscheidung des 3. Strafsenats (nicht in der amtlichen Sammlung: 3 StR 172/06) nahelegen will:

2006 hatte der Bundesgerichtshof eine Verurteilung wegen Vergewaltigung aufgehoben und dies wie folgt begründet: Dass „der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat“, belege „nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt. Das Herunterreißen der Kleidung allein reicht zur Tatbestandserfüllung nicht aus“. Seit dieser Entscheidung hat es viele Fälle gegeben, in denen die Staatsanwaltschaften und Gerichte den Vergewaltigungsparagraphen § 177 entsprechend eng ausgelegt haben.

Es ist – vorsichtig formuliert – abenteuerlich, hier einen „Trend“ in der Rechtsprechung auszumachen bzw. sogar zu vermuten, Vergewaltiger würden sich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung orientieren oder diese hätte irgendeinen Einfluss auf ihre Tat. Diese Entscheidung begrenzt – wenn überhaupt – nur einen ansonsten ausufernden Gewaltbegriff. Man stelle sich im Umkehrschluss vor, allein das Herunterreißen der Kleidung würde zur Erfüllung des Straftatbestandes der Vergewaltigung ausreichen – in wievielen Fällen wären stürmische Liebhaber dann fiese Vergewaltiger? Man denke allein an all die Filme in Kino und TV, in denen eine solche Szene regelmäßig vorkommt und (vom zumeist weiblichen Betrachter) als eine Darstellung gesteigerter Leidenschaft empfunden wird.

Wo beginnt eine Vergewaltigung?

Kann es nach einem stattgefundenen Geschlechtsverkehr in Abwesenheit jeglicher Beweise – in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht – im Belieben des Partners stehen, das Geschehene am nächsten Tag als Vergewaltigung darzustellen? Wohlgemerkt: ohne jede Gewaltanwendung physischer oder psychischer Art, ohne irgendeine Äußerung des Nichtwollens oder Ablehnung des Sexualverkehrs? Vielleicht, weil man den One-Night-Stand bereut, das eigene Verhalten vor dem Lebens-/Ehepartner rechtfertigen will oder schlicht weil das einseitig vorhandende „Mehr“ an Gefühlen nicht erwidert wird? Eine Strafbarkeit muss  für den Handelnden erkennbar sein.

Um auf das Urteil des 3. Strafsenats zurückzukommen: Der Rechtsfehler (die fehlerhafte Feststellung von Gewalt durch das Tatgericht) führte weder zu einer Aufhebung des Schuld- noch des Strafausspruches – sprich: die auch wegen weiterer Fälle verhängte Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten blieb unverändert bestehen.

Kriminologisch beleuchtet werden sollte der Einfluss des 1. Strafsenats auf diese Statistik und die hohe Differenz in der Verurteilungsquote der F-Länder. Fällt diese mit der Zuständigkeit des 1. Strafsenats für die OLG-Bezirke zusammen? Von November 2002 bis April 2013 saß diesem Senat der Vorsitzende Armin Nack vor – in dieser Zeit wurde dem Senat die zweifelhafte Ehre zuteil, als „Kahn-Senat“ tituliert zu werden – als Bezeichnung für einen Spruchkörper „der alles hält“, also dementsprechend selten das Urteil eines Tatgerichts wegen Rechtsfehlern im strafprozessualen Verfahren oder der Beweiswürdigung in der Revision aufhob.

Fehlurteile durch falsche Beschuldigung von Tätern, die sich für Opfer halten

Näher untersucht werden sollte zudem, in wievielen Fällen die Verfahren aufgrund einer Falschbeschuldigung begonnen und später dann eingestellt wurden. Der Richter am 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs Eschelbach ist davon überzeugt, dass die Quote falscher und dennoch rechtskräftiger Strafurteile – insbesondere in Verfahren wegen Vergewaltigung sowie sexuellen Missbrauchs2 – erheblich sein dürfte3, nicht zuletzt wegen der schwierigen Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen in „Aussage gegen Aussage“-Konstellationen.

In Gänze unverständlich ist ferner, warum von Seiten des Bundesministeriums für Justiz kein Interesse daran besteht, den Ertrag aller bisher durchgeführter Wiederaufnahmeverfahren umfassend darzustellen. Dies lässt befürchten, dass den Handlungspflichten ausgewichen werden soll, die sich aus den Beobachtungen für das Gesetzgebungsverfahren ergeben könnten. Anscheinend ist der für die Auseindersetzung mit Rechtsfragen und der Erörterung verschiedener, jeweils vertretbarer Lösungen ausgebildete Jurist durch die Konfrontation mit einem Fehlurteil überfordert: Vertretbar kann die Verurteilung eines Unschuldigen ja nicht sein.4 Wollte der Gesetzgeber vermeidbare Fehlleistungen der Erstrichter zum Anlass einer Reform des Rechts der Wiederaufnahme nehmen, wäre hingegen wohl eine andere Reaktionen zu erwarten gewesen. Gedacht ist hier insbesondere an die Einführung von Videoaufzeichnung der polizeilichen Aussagen sowie – immens wichtig – eines Inhaltsprotokolls der in 1. Instanz beim Land- und beim Oberlandesgericht durchgeführten Hauptverhandlung, dessen Wirkung vor allem wäre, das Phänomens „Der falsche Film“5 wirksam Herr zu werden.

Einstellungsquote: Eine Ausfilterung im Strafverfahren

Spricht man über Statistiken zur Strafverfolgung, sollte man wissen, dass etwa 70-80% aller begonnenen Ermittlungsverfahren eingestellt werden – also ohne eine Verurteilung enden. Die Einstellung ist in der staatsanwaltlichen Praxis eher die Regel, denn die Ausnahme. Die Gründe dafür verdeutlicht die nachfolgende Grafik der allgemeinen Kriminalstatistik:

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Ausfilterung im Strafverfahren im Jahr 2009 // Grafik: Statistisches Bundesamt

Es ist also keineswegs eine Besonderheit nur im Sexualstrafrecht, dass nicht alle Strafanzeigen auch zu Verurteilungen führen. Natürlich werden andererseits Verfahren wegen Vergewaltigung nicht wegen „geringer Schuld“ gem. § 153 StPO eingestellt, dazu wiegt der Tatvorwurf und das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu schwer. Aber auch hier muss nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden, wenn sich der Tatverdacht nicht als hinreichend erweist.

Gerade bei Vergewaltigungen im Nahbereich, also wo die Frau den Täter mehr oder weniger gut kennt, gibt es – das ist nicht abzustreiten – häufig Beweisprobleme. Es steht dann oft Aussage gegen Aussage. Nicht zuletzt haben auch Erscheinungsformen wie k.o.-Tropfen, deren Nachweis im Kör­per nur sehr kurz möglich ist, dazu beigetragen. Die alles entscheidende Frage ist, wie die Justiz, die Medien und vor allem die Öffentlichkeit damit umgehen will: Akzeptiert ein Rechtsstaat die Verurteilung eines vielleicht Unschuldigen aufgrund einer unklaren Beweislage zugunsten der Generalprävention oder gilt nach wie vor der Grundsatz „in dubio pro reo“?

 

  1. vgl. dazu nur den Bericht vom selben Tag: „(Mann saß sieben Jahre in Haft) Vergewaltigung erfunden: Frau wollte Ex-Freund ‚einfach loswerden’“. []
  2. In diesen Strafverfahren sind besonders oft sog. „Aussage gegen Aussage“-Konstellationen ohne weitere Sachbeweise zu finden; vgl. auch mit Beispielen aus der psychiatrischen Praxis: Kröber, a.a.O. []
  3. Mit eingehender Begründung: Eschelbach, a.a.O. Rn. 63.2 []
  4. Schwenn: „Merkmale eines Fehlurteils“, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (Heft: Fehlurteile im Strafverfahren), November 2013, 219 []
  5. Begriff bei Nack in: Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag (FS-Rieß), 361 [368]; siehe dazu auch Eschelbach in: FS-Widmaier, 137 [131] und Schwenn, NJW 2011, NJW-aktuell Nr 9, 18 []

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