Eine Tat lässt sich nicht en détail aufklären? Macht nichts – verurteilt wird trotzdem!
Steht fest, dass der Täter gegen einen von zwei Straftatbeständen verstoßen hat, bleibt aber unklar, gegen welchen der beiden oder durch welche konkrete Handlung, müsste er bei wechselseitiger Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ freigesprochen werden. Klassischer Fall ist die Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei: So wird wegen Hehlerei bestraft, wenn nachzuweisen ist, dass er sich in Kenntnis der Herkunft aus einer Straftat einen Beuteanteil aus einem Vermögens- oder Eigentumsdelikt verschafft hat, wenn lediglich ungewiss bleibt, ob er schon an der Vortat beteiligt war. Die Wahlfeststellung stellt sozusagen eine Ausnahme des „in dubio pro reo“-Grundsatzes dar.
Die gesetzesalternative Wahlfeststellung wackelt, seit der 2. Strafsenat mit dem Beschluss vom 28. Januar 2014 (2 StR 495/12) bei den anderen Strafsenaten anfragte, ob sie sich seiner Rechtsansicht anschließen, wonach die ungenau als „ungleichartige“ Wahlfeststellung bezeichnete richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Verbots der richterrechtlichen Rechtsfortbildung („nullum crimen eine lege“) und des Gesetzlichkeitsprinzips („nulla poena sine lege“) verstoße.
Verbot richterrechtlicher Rechtsfortbildung
Die Strafgerichte sind auf die bloße Rechtsanwendung beschränkt1, die eine richterrechtliche Rechtsfortbildung mit strafbegründender Wirkung ausschließe. Der Gesetzgeber hat dagegen durch Festlegung der tatbestandlichen Voraussetzungen zu entscheiden, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts verteidigt werden müsse. Den Strafgerichten ist es daher verwehrt, gesetzgeberische Entscheidungen in strafausdehnender Weise zu korrigieren2. Es gilt das Verbot analoger und gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung.
Von Befürwortern der gesetzesalternativen Wahlfeststellung wird zu deren Legitimation angenommen, es handele sich um eine bloß prozessuale Gestaltung3, weil die alternativ in Frage kommenden Straftatbestände gesetzlich bestimmt seien und die Entscheidung lediglich von der Anwendung des Zweifelssatzes abhängig sei. Das greife indes zu kurz, da die gesetzesalternative Wahlfeststellung auch im materiell-rechtlichen Sinn strafbarkeitsbegründend wirke.
Die „echte“ Wahlfeststellung sei nicht – wie der Zweifelssatz – nur eine Entscheidungsregel; denn die Rechtsfigur beeinflusse die Entscheidung durch die Vorgabe, dass bei einer exklusiven Sachverhaltsalternativität nicht nur eine bestimmte Verurteilung oder ein Freispruch in Frage komme, sondern auch eine dritte Entscheidungsvariante. Insoweit stehe die Rechtsfigur der gesetzesalternativen Wahlfeststellung im Spannungsverhältnis zum Zweifelssatz.
Schließen sich die in Betracht kommenden Tatbestände gegenseitig aus, fehle in der Wahlfeststellungssituation jeweils der Nachweis eines Tatbestandsmerkmals bei beiden Strafnormen. Die wahldeutige Verurteilung erfolge nur aufgrund eines „Rumpftatbestands“4. Damit beruhe die Verurteilung jedoch praktisch auf einer (ungeschriebenen) dritten Norm5, die – angeblich – übereinstimmende Unrechtselemente der beiden gerade nicht zur Anwendung gelangenden Normen in sich vereinigen soll. Dabei handele es sich um ein materiell-rechtliches Element6, anhand dessen über das Vorliegen von Schuld und das Erfordernis von Strafe entschieden werde.
Grundlagen der Strafbemessung müssen eindeutig sein
Im Übrigen müssen nach Art. 103 Abs. 2 GG auch die Grundlagen der Strafbemessung eindeutig sein („nulla poena eine lege“). Dem Gesetz müsse nicht nur entnommen werden können, wann Strafen einer bestimmten Art zu verhängen sind und welcher Strafrahmen dafür gilt, sondern auch nach welchen Gesichtspunkten innerhalb dieses Rahmens die Zumessung der Strafe zu erfolgen habe.7 Bleibe für den Strafrichter unklar, welche Unrechtshandlung überhaupt begangen wurde und welche Strafnorm einschlägig ist, könne seine Strafzumessung aufgrund einer nur per Saldo festgestellten Schuld des Angeklagten nicht im Einklang mit der gesetzlichen Vorgabe erfolgen8. Lässt der Strafrichter offen, welcher Straftatbestand anzuwenden ist und greift er nur auf den geringsten Strafrahmen aus den Alternativen zurück, würden zwangsläufig Ungenauigkeiten den Strafzumessungsvorgang begleiten; die mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar seien.9
Andere Strafsenate halten an Wahlfeststellung fest
Pünktlich zum nahenden Jahresende liegen seit wenigen Tagen liegen von allen Strafsenaten die Entscheidungen mit Gründen bezüglich des Anfragebeschlusses des 2. Strafsenats vor:
- 1. Strafsenat: 1 ARs 14/14
- 3. Strafsenat: 3 ARs 13/14
- 4. Strafsenat: 4 ARs 12/14
- 5. Strafsenat: 5 ARs 39/14
Die anderen Strafsenate des Bundesgerichtshofs halten an ihrer bisherigen Rechtsprechung zur gesetzesalternativen Wahlfeststellung fest, die nach deren Auffassung nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße. Damit dürfte im kommenden Jahr der Große Senat für Strafsachen entscheiden (§ 132 Abs. 2 und 3 GVG). Sollte die gesetzesalternative Wahlfeststellung tatsächlich „kippen“, ist der Gesetzgeber gefordert, der sich hoffentlich nicht von unüberlegtem, populistisch motiviertem Handeln leiten lässt.
- vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.01.1995 – 1 BvR 718/89 u.a., BVerfGE 92, 1, 12 [↩]
- BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 43 [↩]
- vgl. Nüse, GA 1953, 33 [38]; Wolter, GA 2013, 271 [273] [↩]
- Günther: Verurteilungen im Strafprozess trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel (1976), S. 262 ff. [↩]
- Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten (1973), S. 270; Freund: „Nicht ‚entweder – oder‘, sondern ‚weder – noch’“, in: Festschrift für Wolter (2013), S. 35, 49; AnwK-StGB/Gaede (2. Aufl. 2015), § 1 Rn. 51 [↩]
- vgl. Montenbruck: Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozessrecht (1976), S. 219 [↩]
- BVerfG, Urt. v. 20.03.2002 – 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135 [164] [↩]
- Alwart, GA 1992, 545 [562 ff.] [↩]
- vgl. BVerfG aaO, BVerfGE 105, 135 [159] für die Vermögensstrafe [↩]
Mit § 2b StGB hatte man das doch schon mal gut gelöst.