Darf heute ein Lehrer Schüler noch „nachsitzen“ lassen? Wo hört zulässige Disziplinierung auf und wo fängt Freiheitsberaubung an? Das sind eigentlich Fragen, die in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung geklärt werden sollten und nicht vor Gericht.
Lehrer muss sich wegen Freiheitsberaubung vor Gericht verantworten
Dennoch hatte sich im vergangen Jahr ein Musiklehrer einer Realschule in Nordrhein-Westfalen vor dem Amtsgericht Neuss zu verantworten, die Schüler einer sechsten Klasse einen Wikipedia-Eintrag über Niccolò Paganini abschreiben und erst nach Abgabe der Arbeit aus dem Unterricht entlassen zu haben. Der Lehrer habe sich demonstrativ mit einem Stuhl und einer Gitarre auf den Knien in den Türrahmen gesetzt, um so den Ausgang zu versperren. Ein Schüler hatte per Handy die Polizei gerufen und außerdem behauptet, der Lehrer habe einen Schüler geboxt. Der Vorwurf der Körperverletzung erwies sich als nicht haltbar, aber wegen der angeblichen Freiheitsberaubung verwarnte der Strafrichter den Lehrer mit Strafvorbehalt und warmen Worten: Zwar habe der Richter „volles Verständnis“ für den schwierigen Job des Lehrers – dessen ungeachtet erteilte das Gericht ihm die Auflage, sich im Umgang mit undisziplinierten Schülern fortzubilden, andernfalls drohe eine Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro.
Der Musiklehrer ging gegen das Urteil des Amtsgerichts in Berufung und wurde am Freitag vom Landgericht Düsseldorf aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Zuvor hatten die Richter vergeblich versucht, eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen und betont, der Sachverhalt sei „ungeeignet, von einem Strafgericht entschieden zu werden“. Einer Einstellung hatte sich die Staatsanwaltschaft aber verschlossen.
Sozialadäquanz der Freiheitsberaubung
Objektiv würde wohl eine Freiheitsberaubung vorliegen, wenn ein Lehrer seine Schüler einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, solange es sich nicht um eine ganz kurzfristige Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit handelt. Die Tathandlung muss allerdings auch rechtswidrig sein, wobei es etwa bei Handlungen in Ausübung des Sorgerechts fehlen soll. Obwohl eine Mittel-Zweck-Relation wie bei der Nötigung hier keine Rolle spielt, so muss doch die Frage gestellt werden, ob sozial vertretbares Handeln auch tatbestandsmäßig sein soll. Einem Lehrer stehen heute kaum noch Mittel zur Disziplinierung zur Verfügung, sie sehen sich vielmehr hilflos der Respektlosigkeit ihrer Schüler gegenüber, die dank antiautoritären Erziehungsstils auch von ihren Eltern einen solchen Respekt nicht immer mehr vermittelt bekommen.
Die Grenze zwischen „gerade noch sozialadäquat“ und „schon rechtswidrig“ verläuft fließend. Dadurch wird der Lehrerberuf mangels Rechtssicherheit quasi zur gefahrgeneigten Tätigkeit, sofern Mami und Papi gleich die „Keule“ des Strafrechts schwingen. Von den Staatsanwaltschaften wird man hingegen ein sensibles Gespür und das richtige Augenmaß verlangen dürfen.
Das würde ich durchaus unterschreiben – und mir anders wünschen, insofern habe ich für Ihr Argument einige Sympathie.
Andererseits ist das ja kein Zufall oder gottgebener Verlauf, sondern eine bewusste Entscheidung des Gesetz- oder Verordnungsgebers; und wenn ich habe einige Schwierigkeiten damit, dessen klaren Willen auf diese Weise zu unterlaufen. Der Wegfall des „besonderen Gewaltverhältnisses“ ist unterm Strich m.E. ein Gewinn.
Wenn es keine legale Handhabe für den Lehrer gibt, seine Klasse zu zwingen, einen Text abzuschreiben – und meiner Kenntnis nach untersagen die meisten Schulordnungen „Strafarbeiten“ ohne pädagogischen Zweck -, und wenn er keine legale Handhabe hat, sie am Verlassen des Klassenraumes zu hindern bevor sie damit fertig sind, dann darf er das auch nicht, und dann ist sein Handeln m.E. beim besten Willen auch nicht mehr sozialadäquat. (Darf er es hingegen, dann fehlt es bereits am Tatbestand.) Freilich ist es dann geboten, unter Berücksichtigung der schwierigen Sachlage dem Lehrer entgegenzukommen (§§ 153, 153a StPO), aber das erfordert ggf. seine Zustimmung.
Ein anderes Beispiel ist der Wegfall des körperlichen Züchtigungsrechts der Lehrer und Eltern. Man muss nicht diskutieren, dass Körperstrafen im eigentlichen Sinne keinen Platz mehr in der Erziehung haben dürfen; ich halte aber durchaus die Auffassung für vertretbar, die berühmte „ausgerutschte Hand“ schade bei einem ansonsten einwand- und gewaltfreiem Erziehungsstil nicht. Der Gesetzgeber sieht das aber ausdrücklich anders. Ist es dann Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, diesem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers die Gefolgschaft zu verweigern, indem Körperverletzungshandlungen als sozialadäquat oder in anderer Weise straflos gestellt werden?
Ich zweifele.
Die Sozialadäquanz darf meines Erachtens kein Einfallstor sein oder werden, um ausdrückliche rechtliche Wertungen, die man vielleicht nicht teilt, zu umgehen.
Ich bin allerdings entschieden Ihrer Auffassung, dass solche Fälle keiner Ahndung durch öffentliche Klage bedürfen – es sei denn, muss ich hinzufügen, der Beschuldigte macht deutlich, dass er weiterhin so zu handeln gedenkt.
@Thomas Hochstein: Vielen Dank für Ihren differenzierten Kommentar.
Man kann schon überlegen, ob es sich überhaupt um eine „Strafarbeit“ handelt. Wenn die Unterrichtskultur in schwierigen Klassen keine andere Art der Wissensvermittlung zulässt, muss m.E. auch das Abschreiben einer Quelle ein probates Mittel sein. Hier im konkreten Fall war es – darf man der Berichterstattung glauben – aber die Staatsanwaltschaft, die sich einer Einstellung verschloss. Sie werden mir vielleicht zustimmen, dass auf Seiten der Staatsanwaltschaften manchmal das richtige Augenmaß fehlt. So vielleicht auch hier.
Über Körperstrafen müssen wir nicht streiten: diese sind nicht akzeptabel, aber es kann dennoch Einzelfälle der individuellen Überforderung geben, wo auch eine Einstellung nach § 153 StPO „drin“ sein muss.
@Strafakte.de: Ich denke, wir liegen auf derselben Linie.
Letztlich sind es drei Punkte, die man m.E. unterscheiden muss:
1. Kommen eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO respektive ein Freispruch unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz in Betracht? Das ist natürlich immer Tatfrage und nach Presseberichten nur schwer zu beurteilen.
2. Kommt eine Einstellung, ggf. gegen Auflagen, in Betracht? Es ist wenig tunlich, Schülern – oder Eltern -, die pädagogische Streitigkeiten mit den Mitteln des Strafrechts auszufechten trachten (und das ist gar nicht so völlig selten), in ihrem Tun auch noch zu befördern. Andererseits gibt es auch immer noch die Lehrkräfte (Erzieher, Eltern, Ärzte, Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte), die das Recht nicht kennen (wollen) und bewusst ihre eigenen Vorstellungen von dem, was richtig ist, durchzusetzen trachten. Dem ist andererseits ein Riegel vorzuschieben.
Nicht immer ist der nach der Aktenlektüre entstandene Eindruck, um welchen dieser Fälle es sich handelt, der richtige.
3. Und dann kommt es eben – in einem dritten Schritt – dazu, dass sich entweder die Staatsanwaltschaft der Einsicht verschließt, dass nur eine Einstellung geboten sein kann (und dann etwas anklagt, was nicht angeklagt gehört), oder der Beschuldigte der Erkenntnis, dass er sich zwar im Recht fühlt, aber nicht Recht hatte (und dann einer Einstellung gegen Auflagen nicht zustimmt).
Und da bin ich wieder bei Ihnen: beides kommt vor; manchmal verstehe ich die eine Seite schlechterdings nicht, manchmal die andere. Andererseits habe ich – wie Sie sicherlich auch – oft erlebt, dass man einen Sachverhalt (und insbesondere seine Facetten) in der Berichterstattung nur schwer oder manchmal auch gar nicht mehr wiedererkennt (mal in die eine, mal in die andere Richtung). Deshalb bin ich bei einer Beurteilung auf Grundlage von Presseberichterstattung mittlerweile sehr vorsichtig.
Herzliche Grüße,
Thomas Hochstein