Diese vermeintlich doch einfach zu beantwortende Frage ist bei näherem Hinsehen manchmal gar nicht derartig einfach zu klären, wie es im ersten Moment scheint.
Wie unmittelbar muss die Verletzung sein, um Nebenkläger zu sein?
Die Diskussion wurde angestoßen durch die Rolle einer Nebenklägerin im sog. NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München. Die Nebenklägerin hielt sich zum Zeitpunkt des Nagelbombenanschlags im hinteren Teil ihrer Wohnung in der Kölner Keupstraße auf. Sie hatte zwar den Knall der Explosion gehört, nahm aber an, der Gasboiler in der Küche sei explodiert. Durch die Fenster des Schlafzimmers konnte sie nicht auf die Straße sehen, da sich die geschlossenen Jalousien nicht öffnen ließen. Erst, nachdem sie etwa eine halbe Stunde nach der Explosion der Nagelbombe auf die Straße ging, sah sie panisch herumlaufende, blutüberströmte Menschen und die angerichteten Zerstörungen.
Obwohl die Anwohnerin körperlich unversehrt blieb, leide sie nach eigenen Angaben seit der Tat unter Angstzuständen und Panikattacken. Die Verteidigung fordert, die Nebenklägerin von dem Verfahren auszuschließen, da sie allenfalls mittelbar betroffen sei, Opfervertreter und auch die Bundesanwaltschaft halten dagegen. Wie mittelbar muss also die Verletzung sein, um sich im Sinne von § 395 StPO als Nebenkläger anschließen zu können?1
Die Frage ist bereits seit einiger Zeit insbesondere wegen der Auswirkungen von § 395 Abs. 3 StPO Gegenstand des juristischen Diskurses, da nach der Norm der Anschluss als Nebenkläger wegen jeder rechtswidrigen Tat grundsätzlich möglich sein soll („insbesondere“).2 Das Ziel des besseren „Opferschutzes“ könnte die Nebenklage durch die Neuregelung3 freilich „ins Uferlose“ ausweiten. Die eigentliche Zielsetzung, die Nebenklagebefugnis bei manifesten und aggressiven Gewalthandlungen gegen den Verletzten zu erhalten und auszubauen, die „typischerweise bei Opfern schwere Folgen auslösen und daher die Schutzbedürftigkeit dieser Verletzten erhöhen“4, konnte nur verfehlt werden.5
Wer ist Opfer und wer ist Täter?
Das Institut der Nebenklage beruht auf einem Vertrauensvorschuss des Gerichts in Gestalt der Vermutung, dass der angeblich Verletzte auch der wahre Verletzte ist. Dies zu klären, ist eigentlich erst Gegenstand der Hauptverhandlung. Diese „Erkenntnis“ wird allzu häufig nicht nur von Polizeibeamten und Justizjuristen vergessen – Thomas Fischer musste auch Renate Künast in seinem aktuellen „Zeit“-Artikel erinnern:
Ob jemand ein Täter, ein Verbrecher, ein Opfer ist, ist nämlich das Ergebnis eines Strafverfahrens, nicht seine Voraussetzung.
Auch unter Rechtsanwälten ist es mittlerweile gang und gäbe, bestimmte mutmaßliche Täter wie „Vergewaltiger“ oder „Kinderschänder“ niemals zu vertreten oder zu verteidigen und sich demgegenüber ausschließlich als „Opferanwalt“ zu begreifen – besonders häufig, wenn parallel zur Anwaltstätigkeit auch die eigene Karriere in der Politik gefördert wird. Dabei halten Anwaltsverbände die Präsumtion der Unschuld für eines der Essentialia des Anwaltsberufes. So schreibt auch Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unmissverständlich fest:
Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
Das Selbstverständnis von Opferanwälten und Opferanwältinnen
Doch warum begreifen sich immer mehr Rechtsanwälte als bloße „Opfer-Anwälte/innen“? Ist es nur der Drang, stets auf der vermeintlich „richtigen“ Seite des Gerichtssaals zu stehen? Oder scheut man die Auseinandersetzung mit dem Gericht und stellt sich deshalb an die Seite des Staatsanwalts, um sich einhellig jedem seiner Anträge ohne eigene Begründung anzuschließen? Sind Strafverteidiger dann alles „Täteranwälte“ oder „Verbrecheranwälte“?
Mich befremdet dieses Rechtsverständnis zutiefst.
Selbstverständlich erfährt der Opferschutzgedanke im heutigen Straf(verfahrens)recht – völlig zurecht – eine hohe Bedeutung und ist Ausprägung der staatlichen Fürsorgepflicht und Würde des Menschen. Auch soll sich der Verletzte im Strafverfahren nicht als bloßes Objekt fühlen und erfahren, dass seine Belange wahr- und ernstgenommen werden. Nach vorherrschender, vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung6 vertretener Ansicht besteht allerdings kein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch des Verletzten auf Durchführung eines Strafverfahrens und noch weniger ein subjektiv-öffentliches Recht auf Bestrafung des Täters.
Genugtuung dürfe eben nicht als „emotionaler Wunsch nach Rache“ missverstanden werden.7
- Die Frage der konkreten Verletzung dieser Nebenklägerin und eines nachträglichen Ausschlusses soll hier nicht betrachtet werden, vgl. dazu: NSU-Prozess: Wie definiert sich die Opferrolle? [↩]
- Jahn/Bung, StV 2012, 754 [↩]
- Barton formuliert in JA 2009, 753 [757] eingängig: „Die an der Schutzbedürftigkeit der Opfer ansetzende Lyrik der Rechtspolitik (steht) im Kontrast zur Prosa des verabschiedeten Gesetzes.“ [↩]
- BT-Ds. 16/12098, S. 52 f. [↩]
- Jahn/Bung, StV 2012, 754 [755] [↩]
- BVerfGE 21, 245 [261]; 51, 176 [187]; BVerfG NStZ 2002, 211 [212] [↩]
- Weigend RW 2010, 39 [43, 57]: Dieses Verständnis von Genugtuung füge sich in die repressive Straftheorie ein, so dass es eines eigenständigen Straf- zwecks „Genugtuung für den Verletzten“ nicht bedürfe – zitiert nach Jahn/Bung, StV 2012, 754 [761]. [↩]
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