Strafakte.de

Die goldenen Regeln der allgemeinen Vernehmungslehre

In der letzten Woche war von den acht goldenen Regeln der allgemeinen Vernehmungslehre zu lesen. Die Grundlage dafür bildete das Standardwerk von Bender/Nack/Treuer1, doch waren die Prinzipien sehr allgemein gehalten und eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Kontakt, Freundlichkeit, Interesse, Lob, Selbsteröffnung, Geduld, Verständlichkeit und Kompetenz.

Wichtige Grundregeln der allgemeinen Vernehmungslehre vor Gericht fehlten allerdings, die im Folgenden hier aufgezeigt und kurz erläutert werden sollen. Soweit ich weiß, sind die in keinem Buch zusammenhängend so zu finden und mir u.a. im Rahmen meiner praktischen Ausbildung vermittelt worden. Bei der Auswahl mehrerer Wahlverteidiger sollte beachtet werden, dass ein Vernehmungsspezialist darunter ist, der die Grundsätze der Vernehmungslehre beherrscht und über ausreichend praktische Erfahrungen im jeweiligen Deliktsbereich verfügt.

Grundregeln der allgemeinen Vernehmungslehre

Bekannt ist, dass Fragen (nicht nur vor Gericht) jeweils besser oder schlechter formuliert werden können. In der Hauptverhandlung kann das häufig dazu führen, dass bestimmte Fragen unzulässig sind, die es zu erkennen und – unter Umständen – auch zu beanstanden gilt, etwa

  • bestimmte Wahrnehmungen suggerieren: „Haben Sie gerochen, dass er betrunken war?“
  • bisher Unbewiesenes unterstellen: „Sie haben bei der Polizei gesagt, …“
  • dem Zeugen Fehlverhalten unterstellen: „Und anstatt ihr zu helfen, haben Sie …?“
  • unbegründetes Misstrauen entgegenbringen: „Können Sie sicher ausschließen, dass …?“
  • eigene Rückschlüsse des Zeugen einfordern: „Meinen Sie, dass der Angeklagte …?“
Vernehmung, Zeuge, Zeugenvernehmung, Befragung, Vernehmungslehre, Richter, Strafverteidiger, Verteidiger

Die Zeugenvernehmung aus der Perspektive des Richters // Foto: Wikipedia/ACBahn (CC BY 3.0) – bearbeitet

Für die eigene Befragung von Zeugen gilt, dass diese nur sehr begrenzt planbar ist – erforderlich sind vielmehr Flexibilität und Spontanietät. Neben den „acht goldenen“ Regeln der allgemeinen Vernehmungslehre nach Bender/Nack/Treuer sind folgende Grundsätze hilfreich:

Stelle nie eine Frage, deren Antwort du nicht schon kennst.

Das ist m.E. der wichtigste Grundsatz einer Zeugenbefragung in der Hauptverhandlung. Natürlich sollten die Fragen stets offen und nicht suggestiv formuliert sein, allerdings kann es für den Mandanten recht brenzlig werden, wenn man als Verteidiger nicht weiß oder sicher vorausahnt, was der Zeuge auf die konkrete Frage antworten wird. Anhaltspunkte für eine zu erwartende Antwort bilden dessen vorherige Vernehmungen, etwa bei der Polizei. Hat man keine Ahnung, wie die Antwort lauten könnte, sollte man diese entweder nicht stellen oder sich mit Bedacht „vortasten“; andernfalls könnte man seinen Mandanten richtig „reinreißen“, wenn der Zeuge ihn durch eine unvorhergesehene Antwort schwer belastet.

Behutsam an das Beweisergebnis herantasten.

Selbstverständlich ist es keineswegs klug, direkt „mit der Tür ins Haus zu fallen“ – jeder Zeuge würde so vor den Kopf gestoßen sofort „dicht machen“ und die Vernehmung würde zu keinem Ergebnis mehr führen. Über eine freundliche und interessierte Zuwendung muss ein Verteidiger dem Zeugen zunächst verdeutlichen, dass er ihm keinesfalls „feindlich“ gesinnt ist. Es sollte eine entspannte Vernehmungsatmosphäre angestrebt werden2, da innerpsychische Erregung und Stress die Gedächtnisleistung nachteilig beeinflussen können.

Deshalb sollte er zu Beginn der Vernehmung mit weniger wichtigen Fragen beginnen und erst langsam zum Kernproblem vordringen. Man nimmt den Zeugen behutsam an die Hand und vermeidet zugleich, dass plötzlich eine Antwort aus ihm heraussprudelt, die man gar nicht hören wollte. Die Reihenfolge der Fragen sollte jedoch keinem chronologischen oder logischen Aufbau folgen, so dass die Fragen vorhersehbar wären.3 Der Sinn der Fragen sollte einem Zeugen eher möglichst lange verborgen bleiben, damit er sein Aussageverhalten nicht vorausplanen kann – andernfalls wird man keine Widersprüche aufdecken können.

Schaffe eine störungsfreie Vernehmungsatmosphäre.

Die Kunst der Vernehmungstechnik besteht darin, in kürzester Zeit ein Vertrauensverhältnis zum Zeugen aufzubauen – schließlich soll er (vertrauliche) Details preisgeben, die er vielleicht eigentlich gar nicht erzählen wollte. Dafür ist es unerlässlich, dass der Verteidiger bei seiner Befragung durch unqualifiziertes Dazwischenreden – ganz gleich durch wen – nicht gestört wird, um die Aussage eines Zeugen umfassend auf mögliche Schwachstellen zu untersuchen. In der Praxis sieht es oft leider anders aus; unzulässige Eingriffe in das Befragungsrecht des Verteidigers sind an der Tagesordnung. Es ist Aufgabe des Verteidigers, dies durchsetzungsstark zu unterbinden und weitere Unterbrechungen nachhaltig zu verhindern.4

Den Finger in die Wunde legen.

Zweifelsohne kommt es sehr häufig vor, dass ein Zeuge lediglich ausweichend antwortet oder gar die Flucht ins Vergessen antritt. Das kann der Befragende ihm freilich keinesfalls durchgehen lassen! Auch wenn der Zeuge die konkrete Frage nicht beantworten will, sollte diese – jeweils umformuliert – regelmäßig über die gesamte Vernehmung wiederholt gestellt werden, bis der Zeuge sie beantwortet. Das Überraschungsmoment kann dabei wahre Wunder wirken.

Vermeide die berühmte „Frage zuviel“.

Hat der Zeuge bereits eine entlastende Aussage gemacht, sollte der Verteidiger am besten auf jede weitere Frage verzichten. Die Gefahr, dass die Entlastung durch die berühmt-berüchtigte „Frage zuviel“ wieder zunichte gemacht und damit entwertet wird, ist einfach zu groß.

Insgesamt sollte sich ein Strafverteidiger stets vergegenwärtigen, dass sein Fragerecht in der Hauptverhandlung (neben dem Beweisantragsrecht) wohl die schärfste Waffe ist, die ihm zur Entlastung seines Mandanten zur Verfügung steht. Es ist daher mit Bedacht auszuüben.

 

  1. Bender/Nack/Treuer, Tat­sa­chen­fest­stel­lung vor Ge­richt, 3. Auf­l. (2007), S. 185 ff. []
  2. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. (2013), Rn. 1336 (m.w.N.) []
  3. vgl. Klemke/Elbs, Einführung in die Strafverteidigung, 3. Aufl. (2013), Rn. 1045: Eher nicht zu empfehlen ist die Aufstellung von Fragenkatalogen, da der Verteidiger dann meist sklavisch „an ihnen klebt“. []
  4. Dazu OLG Hamm StV 1993, 462: Hat der Vors. jedoch einem Verfahrensbeteiligten das Fragerecht eingeräumt, so darf er es ihm nicht mehr ohne sachlichen Grund entziehen. Gemäß § 241 Abs. 2 StPO ist der Vors. lediglich berechtigt, ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen zurückzuweisen. (…) Ein Verfahrensbeteiligter kann seinen gesetzlichen Anspruch auf Befragung eines Zeugen nur ausüben, wenn er die Gelegenheit erhält, alle zulässigen Fragen im Zusammenhang zu stellen. Solange der Verfahrensbeteiligte, dem vom Vorsitzenden im Rahmen seiner Verhandlungsleitung das Fragerecht eingeräumt worden ist, dieses Recht sach- und prozessordnungsgemäß ausübt, darf ihn der Vors. oder das Gericht nicht ohne sachlichen Grund unterbrechen.

    a.A. BGH NStZ 1995, 143: Die Kontrolle über den Ablauf der Vernehmung eines Zeugen durch den Verteidiger steht dem Vorsitzenden zu. []


5 Kommentare zu “Die goldenen Regeln der allgemeinen Vernehmungslehre

  1. Vielen Dank für den ergänzenden Beitrag! Ich habe diesen als weiterführenden Link in meinen neuen Beitrag über die spezielle Vernehmungslehre aufgenommen.

  2. Die Behandlung dieses wichtigen Themas wünscht man sich bereits während des Jura-Studiums, spätestens jedoch im Rahmen des Referendariats.

Keine Kommentare zugelassen