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Das Rachemotiv aus nichtigem Anlass

Immer wieder haben sich Staatsanwaltschaft, Gericht und Strafverteidigung mit der Frage nach einem Tatmotiv auseinanderzusetzen, dem in „Aussage gegen Aussage“-Konstellationen eine entscheidende Bedeutung zukommt. Dabei ist abzuwägen zwischen einem möglichen Motiv des Täters und dem Falschbelastungsmotiv eines oder mehrerer Zeugen. Allzu häufig entscheidet sich das Gericht gegen ein Glaubwürdigkeitsgutachten1, in dem u.a. solche möglichen Falschbelastungsmotivationen aussagepsychologisch untersucht werden würden. Vielmehr traut sich das Gericht eine „eigene“ Sachkunde zur Beurteilung der individuellen Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder einer Zeugin zu. Im Urteil setzt sich das Gericht häufig laienhaft mit einem Falschbelastungsmotiv auseinander, etwa mit der Begründung, ein Mädchen dieses Alters könne eine derartige Falschbeschuldigung2 nicht erfinden – vor allem nicht aus einem solch nichtigen Anlass wie Zurückweisung, nicht erwiderte Liebe, schlechte Benotung usw.

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Rache ohne Grund? // Foto: William Veder / pixelio.de

Kein Erfahrungssatz gegen ein Rachemotiv aus nichtigem Anlass

Dass eine solche Falschbeschuldigung (im Einzelfall) nicht unmöglich ist und es deshalb keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz dahingehend gibt, dass ein Rachemotiv aus nichtigem Anlass bei einem Kind dieses Alters nicht denkbar wäre, zeigt folgendes aktuelles Beispiel:

Zwei elf und zwölf Jahre alten Mädchen aus Jettingen (Kreis Böblingen) hatten bei der Polizei ausgesagt, sie fuhren gegen 7 Uhr mit dem Linienbus zur Schule, als sich ein unbekannter Mann neben sie setzte und sie „antatschte“ und unsittlich berührte. Die Polizei veröffentlichte daraufhin eine Personenbeschreibung des vermeintlichen Täters. Der Mann aus dem Bus meldete sich am nächsten Tag bei der Polizei und erzählte seine – völlig andere – Version der Geschichte: Er sei in dem voll besetzten Bus von den Mädchen mehrmals angerempelt worden und habe sich durch deren lautes Handy-Spiel gestört gefühlt. Daraufhin sprach er die Mädchen an und bat um Ordnung. Vermutlich, weil sie über diese Ermahnung wütend waren, erfanden die Mädchen die Geschichte mit dem sexuellen Übergriff, offenbarten in einer weiteren Vernehmung allerdings, die Unwahrheit gesagt zu haben.3

 

  1. Zu wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten): BGHSt 45, 164 []
  2. Häufig eine Beschuldigung sexueller Natur (Sexualstrafrecht) []
  3. Stuttgarter Nachrichten vom 04.03.2014: Mädchen erfinden sexuellen Übergriff []

2 Kommentare zu “Das Rachemotiv aus nichtigem Anlass

  1. Und nun spinnen wir diese Sache doch mal weiter: Mit der ausufernden Opferhuldigung im Strafprozess kommt zum Beispiel der Nebenklage eine seltsame Position zu, gerade in solchen Fällen in denen es Aussage gegen Aussage steht, also oft bei Sexualstraftatem.
    Das Opfer. das zugleich einziger Zeuge ist darf einen eigenen Strafanspruch formulieren, es darf plädieren und erhält in den meisten Fällen vollständige Akteneinsicht. In Fällen von Falschaussagen kann das „Opfer“ so die Aussage immer schön dem Ermittlungsstand anpassen.
    Das ist ein untragbarer Zustand. Auch dass die Nebenklägerin zum Prozess teilweise gar nicht geladen wird, sondern sich vertreten lassen kann während der Angeklagte erscheinen muss, läuft eigentlich dem Strafprozess zuwider.
    Zu Guter Letzt ist es ein Witz wenn das „Opfer“ die Entfernung des Angeklagten aus dem Gerichtssaal verlangen kann wenn es sich nicht wohl fühlt (zum Beispiel bei der eigenen Aussage) die Nebenklage aber ein uneingeschränktes Anwesenheitsrecht hat. Wenn es blöd läuft heißt das, dass der Prozess nur mit dem „Opfer“ stattfindet, das zugleich einziger Belastungszeuge ist und auch ein Interesse daran hat, nicht der Falschaussage überführt zu werden, während der Angeklagte vom Prozess ausgeschlossen wird.
    Der Mann aus dem Bus hatte Glück. In einer anderen Situation hätte das Böse enden können für ihn.

  2. Im gegebenen Fall spielt es in meinen Augen eher eine Rolle, dass von sehr vielen Erwachsenen, nicht nur Richtern, die geistigen und abstrakten Fähigkeiten eines elf oder 12 Jährigen Kindes völlig unterschätzt werden. Vielfach denkt man da an die eigene Kindheit zurück, mit 12 hat man da noch an den Storch geglaubt, 40 Jahre später weiß der durchschnittliche 12 Jährige aber über die wahre Natur der Sache in Theorie und bisweilen auch in Praxis bescheid.

    Ein 12 Jähriger mit Baujahr 2000 ist im Mittel eben nicht nur körperlich deutlich weiter entwickelt als ein 12 Jähriger mit Baujahr 1960…

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