Heute wurde durch Urteil des Landgerichts Stade der – zumindest vorläufige – Schlussstrich in einem juristisch interessanten Verfahren gezogen.
Raubüberfall endet tödlich für einen Flüchtenden
Vor etwa dreieinhalb Jahren stiftet eine 21-jährige fünf junge Männer dazu an, einen 77-jährigen Rentner in seinem Haus in Sittensen auszurauben – er gilt als wohlhabend. Am 13. Dezember 2010 überfallen die Männer im Alter zwischen 16 und 24 Jahren den Mann. Sie passen ihn am Hundezwinger ab, drängen ihn ins Haus. Dort nehmen sie ihm die Geldbörse ab, halten ihn auf einem Stuhl fest, drücken eine täuschend echt aussehende Pistole an seine Schläfe und würgen ihn mit einem Schal. Als sie den Tresor öffnen, wird ein Alarm ausgelöst – die Räuber ergreifen die Flucht. Ihre Beute: 2.000 Euro und eine goldene Uhr. Mit einer Pistole schießt der Rentner auf die Flüchtenden und trifft einen 16 Jahre alten Jungen aus Neumünster tödlich in den Rücken.
Der Rentner ließ sich in einer Vernehmung dahingehend ein, dass er einen Schuss gehört habe und wegen der daraus resultierenden Gefährlichkeit zurückgeschossen. Für die Richtigkeit der Einlassung gebe es jedoch keinerlei Anhaltspunkte – eine Waffe wurde nicht gefunden. Insgesamt vier Mal schoss der Rentner. Kugel Nummer drei traf den Flüchtenden in 125 Zentimetern Höhe in den Rücken und zerfetzte die Hauptschlagader, stellte die Rechtsmedizin später fest.
Staatsanwaltschaft und Gericht verneinen Tatverdacht
Mitte 2011 werden die vier jungen Männer zu Haftstrafen verurteilt, die Frau kommt mit einer Bewährungsstrafe davon. Auch gegen das Überfallopfer wird ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Stade kommt jedoch zu dem Schluss, dass der Rentner wohl in Notwehr handelte und stellt die Ermittlungen ein. Gegen diese Entscheidung legte die Familie des Getöteten Beschwerde (sog. Vorschaltbeschwerde, § 172 StPO) ein. Die Staatsanwaltschaft Stade nimmt daraufhin die Ermittlungen wieder auf und erhebt im April 2012 Anklage gegen den Rentner, einen Menschen vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft getötet zu haben.
Das Landgericht Stade lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 204 Abs. 1 StPO jedoch aus tatsächlichen Gründen ab, da von einem hinreichenden Tatverdacht eines Tötungsdeliktes nicht auszugehen sei. Die eingelegte sofortige Beschwerde der Nebenkläger (§ 400 Abs. 2 StPO) führte zum Erfolg: Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle eröffnete mit Beschluss vom 25. Januar 2013 (2 Ws 17-21/13) das Hauptverfahren gegen den Rentner und ließ die Anklage gegen ihn vor dem Landgericht Stade zu.
Erforderlichkeit der Notwehrhandlung beim Einsatz der Schusswaffe
Eine Rechtfertigung durch Notwehr kommt nur infrage, wenn der Angriff noch gegenwärtig ist. Bei Eigentums- und Vermögensdelikten ist ein gegenwärtiger Angriff noch gegeben, wenn die Tat zwar vollendet, die Beute aber noch nicht gesichert ist (BGHSt 48, 207).
Bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Notwehrhandlung ist nach ständiger Rechtsprechung beim Einsatz einer Schusswaffe zu berücksichtigen, dass der Angegriffene in der Regel gehalten ist, den Gebrauch dieser Waffe zunächst anzudrohen, oder – sofern dies nicht ausreicht – wenn möglich vor dem tödlichen einen weniger gefährlichen Einsatz zu versuchen, etwa einen Schuss in das Bein. Im Hinblick auf den danach grundsätzlich zunächst abzugebenden Warnschuss ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein solcher Warnschuss in der gegebenen Situation nicht sicher zur Beendigung des Angriffs geführt hätte. Die Täter waren bereits auf der Flucht und hatten das Haus des Angeklagten bereits verlassen. In der Situation hätten die Täter bei einem Warnschuss ihre Flucht fortsetzen und daher „im Dunkel der Nacht verschwinden können“, wie der Bundesgerichtshof dies in einer ähnlichen Konstellation bereits ausgeführte (BGH NStZ 2001, 590).
Staatsanwaltschaft und Verteidigung beantragten Freispruch
Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung hatten in ihren Plädoyers einen Freispruch für den inzwischen 81-jährigen gefordert. Der Angeklagte habe die fraglichen Schüsse aus Notwehr abgegeben, um den Angriff auf sein Leben und Eigentum abzuwehren, erklärte der Verteidiger in seinem Plädoyer. Die Staatsanwaltschaft meint dagegen eine Überlastungssituation erkannt zu haben. Objektiv habe es zwar keine Notwehrlage gegeben, aber in seiner Todesangst habe sich der Angeklagte so gefühlt.
Die Kammer verurteilte den Rentner heute zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Rentner schoss in Todesangst, was zu einer verminderten Schuldfähigkeit i.S.d. § 21 StGB führte. Trotzdem gab er die Schüsse bewusst ab, nahm den Tod des Flüchtenden billigend in Kauf.
Er versuchte nicht, lebenswichtige Körperregionen zu verschonen. Die Schussspuren zeigten, dass alle Kugeln des geübten Schützen über Hüfthöhe einschlugen, ein Sachverständiger sprach von einem „kompakten Trefferbild“. Er habe demnach nicht versucht, die Beine zu treffen und auch keinen Warnschuss abgegeben, sondern gleich zur „ultima ratio“ gegriffen – dem lebensgefährlichen Schuss. Dieser war als Notwehr allerdings nicht erforderlich und überschritt die Grenzen der gerechtfertigten Notwehr. Wer geladene Waffen im Haus habe, müsse sich damit auseinandersetzen, wann und wie man sie benutzen dürfe. Im Übrigen kenne unser Recht keine „Stand Your Ground“-Gesetze wie einige US-Bundesstaaten, sagte der Vorsitzende Richter der 2. Großen Strafkammer Appelkamp in seiner Urteilsbegründung.
Ob das Verfahren mit diesem Schuldspruch endet oder Staatsanwaltschaft bzw. Verteidigung in Revision gehen, ist noch unklar. Die Nebenklage kann dagegen das Urteil gem. § 400 Abs. 1 StPO nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge (z.B. höhere Strafe) verhängt wird.
Nachtrag: Staatsanwaltschaft und Verteidigung haben Revision gegen das Urteil eingelegt.
Was man in den Medien bis jetzt lesen kann, ist in der Tat recht dürftig. Dass die Strafbarkeit anscheinend damit begründet wird, dass der Überfallene auf die Beine hätte zielen sollen und die Räuber damit vielleicht ebenso „im Dunkel der Nacht verschwinden“ hätten können, erscheint doch sehr unbefriedigend.
Danke, daß Sie Licht in diesen Fall bringen. Aufgrund der ersten Medienberichte war es ja nicht verständlich, warum – bei Annahme von Totschlag – eine so geringe Strafe herausgekommen ist.
Inzwischen sind die Berichte ausführlicher: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/sittensen-rentner-nach-toedlichen-schuessen-auf-einbrecher-verurteilt-a-999523.html, https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Bewaehrungsstrafe-fuer-Toetung-eines-16-Jaehrigen,sittensen171.html
Das Gericht hat demnach in dubio pro reo § 21 StGB angewandt. Wenn der Angeklagte aber die Grenzen der Notwehr nach Meinung des Gerichts aus Todesangst überschritt, stellt sich die Frage, warum das Gericht nicht § 33 StGB angewandt hat (mit der Folge der Straffreiheit). Sicherlich mit guten Gründen (und juristischer Millimeterarbeit), die hoffentlich auch veröffentlicht werden.
Notwehrfragen sind immer vermimtes Gebiet (man nehme nur Volkes Stimme unter dem NDR-Bericht und unter http://www.taz.de/!75745/ – der Spiegel schaltet die Kommentarfunktion gar nicht erst an, wenn es droht, heiß herzugehen).
@OG: Vielen Dank! Ich habe die neuen Informationen noch in den Text eingearbeitet. Hoffentlich bringen die schriftlichen Urteilsgründe – sofern diese denn veröffentlicht werden – noch etwas Erhellung.
Dass SpOn die Kommentarfunktion gleich abgeschaltet hat, ist sicherlich klug.
Mir scheint, das Gericht zöge die schwache Notwehr des common law vor. Es soll allerdings das Gesetz anwenden und nicht eigene Gesetze finden. Das ist immer wieder eine Tendenz einiger Richter, die Notwehr zu verkürzen oder aber auch in Fällen von Überschreitungen der Notwehr das Opfer härter als den eigentlichen Täter zu bestrafen. Götzl hat in München ja auch mal so ein Prachtstück von Urteil abgeliefert.
Hier wurde ein Rechtsgut geschütz, welches anders zum Handlungszeitraum kaum absehbar vor dauerhaftem Zugriff erwehrt werden konnte. Da gibt es die Mähr von Warnschüssen etc. Es ist einem Schützen verboten zu trainieren, wie er auf Menschen schießt. Auch ein Beleuchten des Zieles ist verboten. Aber mal bitte Arme und Beine Treffen. Eine Güterabwägung findet bei Notwehr ausdrücklich nicht statt. MfG
Mit geltendem Notwehrrecht gibt es tatsächlich ein „stand your ground“ sogar erweitert fürIrrtum, Angst, Furcht und Erschrecken. Es müsste ein grobes soziales Mißverhältnis oder eine selbst herbeigführte Situation vorherrschen um diesem Jedermannrecht zu widersprechen. Warum sich Richter regelmäßig derart schwer mit diesem Rahmen tuen, mag wohl an den selten werdenden Schusswaffenbesitzern liegen.