In Anlehnung an den Fall Gustl Mollath schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung eine lesenswerte Abhandlung zum § 63 StGB, der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus regelt:
Urteile, die einen Angeklagten in die Psychiatrie verfrachten, haben einen neckisch-grausamen Tenor. Sie beginnen mit dem wunderbaren Satz: „Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Dieser Freispruch ist allerdings im Lichte dessen, was dann folgt, ein Witz – ein juristisch notwendiger Witz freilich. Der Angeklagte wird für die Straftaten (auch für die, die das Gericht für erwiesen erachtet) freigesprochen, weil er aufgrund seiner psychischen Krankheit als schuldunfähig gilt. Und dann folgt wegen der im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Taten und der daraus angeblich folgenden Gefährlichkeit der Hammer, das dicke Ende, das oft schlimmer und länger ist, als jede Strafe es wäre. Satz zwei des Urteils lautet: „Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet“ – gemäß Paragraf 63 Strafgesetzbuch.
Die „Gefährlichkeit“ eines Patienten lässt sich in der Anwendung der Norm nur sehr schwierig bestimmen. In den Gutachten, die über die Einweisung und die Dauer des Aufenthalts in der Psychiatrie entscheiden, kommt diesem Terminus eine entscheidende Bedeutung zu. Leider fehlt bislang eine allseits anerkannte Definition, denn Gefährlichkeit lässt sich nicht messen – es ist eine reine Prognoseentscheidung. Interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppen haben sich 2007 auf Mindestanforderungen für sogenannte Prognosegutachten geeinigt. Der Gutachter soll sich danach an folgenden Fragen orientieren: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die zu begutachtende Person erneut Straftaten begehen wird? Welcher Art werden diese Straftaten sein, welche Häufigkeit und welchen Schweregrad werden sie haben? Mit welchen Maßnahmen kann das Risiko zukünftiger Straftaten beherrscht oder verringert werden? Welche Umstände können das Risiko von Straftaten steigern?“
Trotzdem lässt sich aus der Gefährlichkeitsprognose keine Schlussfolgerung auf die Dauer der Unterbringung ableiten, wie Prantl feststellt:
Vor zehn Jahren erschien in der juristischen Zeitschrift Strafverteidiger ein Aufsatz von vier Wissenschaftlern, der sich mit der Unterbringung von Beschuldigten in der Psychiatrie gemäß Paragraf 63 Strafgesetzbuch befasst – und mit der Frage, wie man dort wieder herauskommt: „Wegweiser aus dem Maßregelvollzug“ heißt der Text, der aber diesen Weg aus dem psychiatrischen Vollzug auch nicht so recht weisen kann. Der Aufsatz beginnt gleich im ersten Satz mit einer ebenso nüchternen wie erschütternden Feststellung: „Die Entscheidung darüber, wann ein gemäß Paragraf 63 untergebrachter Patient seine Freiheit wieder erhält, folgt weitgehend unbekannten Regeln.“
Heute wird Mollath übrigens vor dem Untersuchungsausschuss im Bayrischen Landtag aussagen. Ist das der langerwartete erste Schritt auf dem Weg aus dem Maßregelvollzug?
Nachtrag: Auch Rechtsanwalt Thomas Stadler setzt sich in einem Artikel sehr detailliert mit dem SZ-Artikel auseinander: Der Fall Mollath ist über den Einzelfall hinaus von Bedeutung.