Die Unschuldsvermutung gilt im Strafrecht als Grundprinzip. Das heißt, kein Tatverdächtiger und keine Tatverdächtige muss die eigene Unschuld beweisen. Im Gegenteil: Die Strafverfolger müssen die Schuld, also die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat, nachweisen. Man darf die Unschuldsvermutung mit Fug und Recht als eine der großen Errungenschaften des Rechtsstaats bezeichnen. Dabei prägt sie nicht nur das Strafverfahren, sondern sie vermittelt zugleich ein Menschenbild, das von Freiheit und Selbstbestimmung gekennzeichnet ist. Kurzum, die Unschuldsvermutung hat auch gesamtgesellschaftlich eine besondere Bedeutung.
Das Prinzip, dass jemand als unschuldig gilt, solange seine Schuld nicht bewiesen ist, ist richtig und wichtig. Dennoch wird die Unschuldsvermutung immer wieder ignoriert, etwa in Presseberichten über laufende Strafverfahren. Nicht selten wird sie auch für Rechtfertigungen im politischen Raum missbraucht. Es kommt sogar vor, dass auch Strafverfolger – über die zulässigen Durchbrechungsmöglichkeiten hinaus – an diesem Grundprinzip rühren.
Die Unschuldsvermutung wirkt dadurch zunehmend „abgenutzt“. Auf den Punkt bringt dies der Jurist und Journalist Heribert Prantl. Er schreibt, dass die Unschuldsvermutung „zweckentfremdet wird“ und damit auf einem „Parkplatz der Gerechtigkeit“ landet. Als Beispiel nennt Prantl unter anderem den Fall des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz. In eine ähnliche Richtung zielt eine Äußerung von Thomas Fischer, Rechtsanwalt und Bundesrichter a.D., im Zusammenhang mit der Presseberichterstattung über das Ermittlungsverfahren gegen den Ex-Fußballer Christoph Metzelder: Die Verwendung der Unschuldsvermutung „als Beschwörungsformel, mit der man vorgeblich jede noch so wüste Vorverurteilung wieder ins Stadium objektiver Berichterstattung versetzen kann,“ sei „überaus unehrlich“.
Wir sehen: Die Unschuldsvermutung wird täglich angetastet. Sie wird gehandelt und es wird um sie gefeilscht – fast so, als gäbe es die Unschuld portionsweise im Angebot. Man nimmt dieses Prinzip gern in Anspruch, und ein bisschen unschuldig ist doch auch schon etwas. Dabei ist den handelnden Personen oft nicht bewusst, welchen Bärendienst sie dem Rechtsstaat damit erweisen. Sie nehmen dies aber billigend in Kauf.
Im Bereich der Strafverfolgung geht es bei der Unschuldsvermutung weniger um die Grenzen des guten Geschmacks als vielmehr um Recht und Gesetz. Wenn die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren führt, dann ist das die Erfüllung einer Dienstpflicht. Dazu kann es auch erforderlich sein, das Prinzip der Unschuldsvermutung zu durchbrechen, etwa beim Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Die Strafprozessordnung bietet solche Möglichkeiten. Dabei ist jedoch stets zu bedenken, dass nicht alles, was gesetzlich möglich ist, im Einzelfall auch rechtlich zulässig geschweige denn notwendig ist. Besonders hervorzuheben sind in dieser Hinsicht Festnahme- und Vernehmungssituationen. Wachsamkeit ist aber auch geboten, wenn es um die Pressearbeit der Polizei und der Staatsanwaltschaften geht. Denn gemessen an den Vorgaben des Bundesgerichtshofs (Lesetipp: BGH, NJW 2016, 3670) liegen hier die Hürden für die Annahme eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung hoch. Für die Betroffenen ist damit meist die Gefahr einer Vorverurteilung verbunden.
Festzuhalten bleibt: Die Unschuldsvermutung ist uns lieb und teuer. Sie ist zum Schutze aller da, aber dieser Schutz ist keineswegs immer so robust, wie er sein sollte. Die Unschuldsvermutung ist jedoch nicht verhandelbar. Und das soll auch so bleiben.
(Ein Kommentar von Dr. Lorenz Bode)
Die Unschuldsvermutung wird nicht nur von der Presse durchbrochen, sondern gelegentlich auch an einem Freitagnachmittag von überarbeiteten kleinen Amtsrichtern, die ein lästiges Verfahren möglichst schnell abschließen möchten…