Das Stichwort „Compliance“ mag heute bisweilen inflationär gebraucht werden und auch ein gewisses Modethema sein.1 Mandanten jedoch lediglich den trivialen Rat zu geben, Gesetz und Recht einzuhalten, dürfte kaum ausreichend sein. Denn dass sich Unternehmen wie jedermann an die Gesetze zu halten haben, dürfte eine Binsenweisheit sein.2 Erschöpfte sich die aktuelle Compliance-Diskussion in dieser Erwartung, bräuchte man sich kaum näher damit zu befassen. Vielmehr geht das heutige Verständnis von Compliance eindeutig darüber hinaus: Nicht das Ziel der unternehmerischen Rechtstreue, sondern die Maßnahmen, die Unternehmen treffen, um dieses Ziel zu erreichen3, prägen den aktuellen Diskurs.
§ 130 OWiG als zentrale Norm der Criminal Compliance
Dementsprechend besteht gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 OWiG für den Inhaber die Pflicht, „gehörige“ Aufsichtsmaßnahmen zu treffen, so dass für ihn hinsichtlich des „Ob“ kein Ermessen bestehen kann. Da jedoch nur eine „gehörige“ Aufsicht geschuldet wird, ist das „Wie“ der konkreten Ausgestaltung dem Unternehmensinhaber überlassen.
In § 130 Abs. 1 S. 2 OWiG finden sich lediglich Beispiele („auch“) der erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen, hinsichtlich der Bestellung, sorgfältigen Auswahl sowie Überwachung von Aufsichtspersonen. Die Vagheit der Vorschrift4 mahnt jedenfalls zur restriktiven Auslegung. Welche Maßnahmen die Aufsichtspersonen ihrerseits zu ergreifen haben, um Zuwiderhandlungen zu unterbinden, wird nicht erläutert. Klar ergibt sich i.V.m. § 9 OWiG jedoch, dass die „Oberaufsicht“ beim Inhaber verbleibt und die Delegation nicht seine Verantwortung bricht.5
Der Inhaber muss – das ist beim Unterlassungsdelikt des § 130 Abs. 1 OWiG nicht anders als bei einem echten oder unechten strafrechtlichen Unterlassungsdelikt – nur diejenigen Maßnahmen ergreifen, die möglich, erforderlich und zumutbar sind (oder gewesen wären), um die Zuwiderhandlung zumindest wesentlich zu erschweren.6 Die geschuldeten Maßnahmen in rein inhaberorganisierten Betrieben mit wenigen Angestellten werden durch die Kriterien der Zumutbarkeit sowie Erforderlichkeit hinsichtlich zusätzlicher Aufsichtspersonen begrenzt. Maßgeblich ist auf den Einzelfall und die Größe der Gefahr von potentiellen Zuwiderhandlungen abzustellen.7
Risiko-Management im Unternehmen
Zu den für Unternehmensinhaber gebotenen Aufsichtsmaßnahmen kann ein betriebsinternes Risikomanagement gehören, das eine sog. Risikoinventur einschließt (Risikoidentifikation, -beurteilung, -kommunikation und -strategien), die den „Status quo“ des strafrechtlichen Risikos im Unternehmen fortlaufend ermittelt.8 Dagegen ist nicht ausreichend, wenn der Verpflichtete nur gelegentlich nach dem Rechten sieht.9
Verpflichtung zur Einrichtung eines Compliance-Systems im Unternehmen
Explizit ergibt sich das Erfordernis zur Einführung eines Compliance-Systems im Unternehmen nur aus den Vorschriften der §§ 91 Abs. 2 AktG, 25a KWG, 33 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpHG.
Umstritten ist, ob sich aus den Spezialvorschriften ein gemeinsamer Rechtsgedanke ergibt10 und sich in Gesamtanalogie11 die Pflicht zur Einrichtung einer Compliance-Organisation für alle Unternehmen herleiten lässt. Das wird überwiegend verneint. Die Vorschriften sind erkennbar auf wenige bestimmte Gefährdungslagen zugeschnitten und nicht zu verallgemeinern.12 Für eine Analogie13 fehlt es an einer Regelungslücke.
Zwar kann das Vorhandensein eines entsprechenden Compliance-Systems eine Aufsichtspflichtverletzung i.S.v. § 130 Abs. 1 OWiG entfallen lassen; im Umkehrschluss ergibt sich daraus allerdings keine Pflicht zu dessen Einrichtung.14 Vielmehr besteht für den Unternehmensinhaber ein umfangreicher Ermessensspielraum15, auf welche Weise („wie“) er der Aufsichtspflicht nachkommt. Demgegenüber kann die Einrichtung eines Compliance-Systems sich hinsichtlich des Vorsatzes im Wirtschaftsstrafverfahren entlastend auswirken.
Je nach – letztlich wohl betriebswirtschaftlich – zu ermittelnder Zumutbarkeit ist die Aufsicht zu institutionalisieren. Ab einer bestimmten Unternehmensgröße (genauer namentlich: Anzahl zu beaufsichtigender riskanter Mitarbeiterhandlungen) wird die Zahl der einzusetzenden Aufsichtspersonen so groß, dass sie zu einer eigenen Abteilung anwachsen muss.16
Schließlich geht auch die Rechtsprechung davon aus, dass die im Einzelfall erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen nicht abstrakt festgelegt werden können, sondern es für deren Umfang auf Art, Größe und Organisation des Unternehmens ankommt.17
- Bock: Strafrechtliche Aspekte der Compliance-Diskussion – § 130 OWiG als zentrale Norm der Criminal Compliance, ZIS 2009, 293 unter Berufung auf Wessing, Steueranwaltsmagazin 2007, 175 [↩]
- Begriff bei Schneider: Compliance als Aufgabe der Unternehmensleitung, ZIS 2003, 645 [646] [↩]
- Wessing/Dann, in: Volk, MAH Verteidigung in Wirtschafts-/Steuerstrafsachen (2. Aufl. 2014) § 4 Rn. 3 [↩]
- Bock, in: Rotsch, Criminal Compliance (2015) § 8 Rn. 9; ausführlich: ders., ZIS 2009, 68 [73 f.] [↩]
- Rogall, in: Karlsruher Kommentar OWiG (4. Aufl. 2014) § 130 Rn. 40 [↩]
- vgl. nur Bock, in: Rotsch, § 8 Rn. 12 ff., 48 ff. [↩]
- sog. Schadenserwartungswert; ausführlich: Bock: Criminal Compliance (2011), S. 467 ff. [↩]
- Bock, in: Rotsch, § 8 Rn. 24 [↩]
- BGHSt 9, 319 [323] [↩]
- Bejahend: Schneider, ZIP 2003, 645 [648 ff.]; Eidam: Unternehmen und Strafe (4. Aufl. 2014) Kap. 14 Rz. 40; Passarge: Grundzüge eines nachhaltigen Compliance-Programms, DStR 2010, 1675 [1676]; ablehnend: Niesler, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (2011) § 130 OWiG Rn. 12; Rogall, KK-OWiG § 130 Rn. 40; Wessing/Dann, MAH § 4 Rn. 31; Hauschka, ZIP 2004, 877 [878] [↩]
- Hauschka, in: Hauschka, Corporate Compliance (2. Aufl. 2010) § 1 Rn. 22; Wessing/Dann, MAH § 4 Rn. 31; Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht (6. Aufl. 2015) § 31 Rn. 16 [↩]
- Rotsch, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht (4. Aufl. 2015) 1. Teil, 4. Kap. Rn. 14; Hauschka, in: Hauschka, § 1 Rn. 23 [↩]
- Zum Verbot sanktionsverschärfender Analogien im Ordnungswidrigkeitenrecht vgl. § 3 OWiG [↩]
- Wessing/Dann, MAH § 4 Rn. 31; Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, § 31 Rn. 16 [↩]
- Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, § 31 Rn. 16 [↩]
- Bock, in: Rotsch, § 8 Rn. 42 [↩]
- OLG Düsseldorf wistra 1999, 115; OLG Köln wistra 1994, 315; OLG Zweibrücken NStZ-RR 1998, 311 [↩]