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Pflichtverteidiger für Beschuldigte in Untersuchungshaft

Seit 2010 muss einem Beschuldigten, der sich in Untersuchungshaft befindet, nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO unverzüglich durch das Gericht ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Aber wie sieht es damit in der täglichen Praxis aus? Dieser Frage hat sich nun die Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung unter der Leitung von Prof. Dr. Matthias Jahn im Auftrag des Deutschen Anwaltsvereins gewidmet.

Die Beiordnung eines Verteidigers hat nach § 141 Abs. 3 S. 4 StPO „unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung“ zu erfolgen – also auch erst nach dem Vorführungstermin des Beschuldigten beim Ermittlungsrichter (§§ 115, 115a StPO). Das ist jedoch zu spät; der Beschuldigte hat sich dann vielleicht bereits selbst belastet – jedenfalls hat der Richter die Untersuchungshaft und dessen Vollstreckung nun angeordnet. Wie soll ein Beschuldigter in dieser Ausnahmesituation, die ihn überfordert und der er nicht gewachsen ist – wie es das Gesetz zubilligt – die Verdachts- und Haftgründe entkräften und Tatsachen geltend machen, die zu seinen Gunsten sprechen?

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Einem Beschuldigen wird nach Anhörung der Haftbefehl für Untersuchungshaft verkündet // Foto: Rike / pixelio.de

Anhörung und Verkündung des Haftbefehls

Ein Beschuldigter sitzt einem Richter gegenüber, für den diese Anhörung mit anschließender Verkündung des Haftbefehls berufliche Routine ist. Der Beschuldigte ohne juristische Kenntnisse betritt hingegen völliges Neuland und weiß nicht, was ihn erwartet. In diesem Moment, in dem dann alles entschieden ist, der Haftbefehl verkündet und in Vollzug gesetzt wurde und für den Beschuldigten nicht selten eine Welt einstürzt, wird vom Richter erstmals die Thematik des Pflichtverteidigers angesprochen.1 Genauer gesagt: Ihm wird – wenn er keinen ihm bekannten Rechtsanwalt benennen kann2 – eine Liste mit Strafverteidigern3 vorgelegt, die üblicherweise Pflichtverteidigungen übernehmen. Aus der Liste soll der Beschuldigte nun mehr oder weniger „blind“ einen Verteidiger auswählen ohne genaueres über dessen Qualifikation zu wissen oder die zwischenmenschliche „Chemie“ beurteilen zu können. Ein späterer Wechsel des Pflichtverteidigers wird von der Rechtsprechung lediglich in besonderen Ausnahmefällen zugelassen. Die Wahl in einer solchen Krisensituation ist also durchaus bedeutsam.

Studie zur Praxis der Beiordnung in Fällen von Untersuchungshaft

Für die Studie wurden alle Mitglieder der DAV-AG Strafrecht sowie alle hessischen Ermittlungsrichter befragt.4 Von rund 3.200 Strafverteidigern nahmen etwa 30 Prozent an der Befragung teil, von 60 Ermittlungsrichtern antwortete die Hälfte. Die meisten der Befragten verfügten über mehr als zehn Jahre Berufserfahrung. Im Ergebnis sprechen sich sodann auch 80% der Strafverteidiger dafür aus, dass ein Pflichtverteidiger früher bestellt werden sollte, nämlich bereits zum Vorführungstermin beim Ermittlungsrichter und nicht erst mit Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft. Trotz dieses eindeutigen Votums wird sich die Forderung kaum durchsetzen lassen, denn fast 70% der Ermittlungsrichter sehen das anders. Sie befürchten, dass der Beschuldigte übereilt einen Verteidiger auswählt und später an diese Wahl gebunden ist.

Ob dies tatsächlich der Grund ist, darf indes bezweifelt werden. Ermittlungsrichter, die über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers entscheiden, ließen sich bei ihrer Auswahl vielmehr davon leiten, ob ihnen ein Anwalt persönlich bekannt ist und ob er einen Verteidigungsstil pflegt, der ohne allzu große Konfliktbereitschaft auskommt. Auch das hat die Studie gezeigt. Die Richter bevorzugen also unkomplizierte Verteidiger – auch gern „Verurteilungsbegleiter“ genannt.

Fazit zur Rechtswirklichkeit der Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO

Erste Ergebnisse der Studie wurden von Prof. Dr. Matthias Jahn auf dem 30. Herbstkolloquium der DAV-AG Strafrecht am 8. November 2013 in Berlin vorgestellt.5 Eine ausführlichere Fassung wird im Frühjahr 2014 als Aufsatz im StrafverteidigerForum (StraFo) erscheinen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass in der Rechtswirklichkeit der Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO für die Zukunft noch einiges zur Verbesserung der Situation der Beschuldigten zu tun ist. Zunächst einmal sollte die Beiordnung früher erfolgen, bestenfalls zur ersten Vernehmung, in jedem Fall zum Vorführungstermin beim Ermittlungsrichter. Die weit verbreitete Praxis, einen Beschuldigten „blind“ seinen Verteidiger wählen zu lassen, ist selbstverständlich wenig sinnvoll. Es dürfte wohl unbestritten sein, dass ein Beschuldigter dem Verteidiger großes Vertrauen entgegenbringen muss – nicht unwichtig ist dabei die „Chemie“ zwischen Anwalt und Mandant; ansonsten wird die Strafverteidigung wohl aussichtslos sein. In diesem Zusammenhang muss ebenfalls darüber nachgedacht werden, dass ein Beschuldigter auch seinen Pflichtverteidiger wechseln können muss, wenn wichtige Gründe dafür sprechen. Dies sollte in der Strafprozessordnung (StPO) klargestellt werden.

 

  1. vgl. den lesenswerten Aufsatz von Thielmann: „Ihnen ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen!“ – Zur Belehrung des Verhafteten über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Haftbefehlverkündungstermin, in: HRRS 2013, 283, 287 []
  2. Manchmal wird ein bekannter, aber wenig geeigneter Rechtsanwalt genannt, z.B. der aus dem Scheidungsverfahren oder von einem Verkehrsunfall, der jedoch (aus gutem Grund) keine Strafverteidigungen macht. []
  3. Erstellt werden die Listen in der Regel von den örtlichen Anwaltvereinen, den Rechtsanwaltskammern, den Strafverteidigervereinigungen, den Ermittlungsrichtern selbst oder sehr selten auch von den Staatsanwaltschaften. Meist sind die Listen alphabetisch sortiert, selten nach formalen Qualifikationen wie einem Fachanwaltstitel. Zwar wird häufig auch die Internetseite des Verteidigers angegeben – allerdings wird über 80% der Beschuldigten die Nutzung des Internets zur Verteidigersuche nicht ermöglicht. []
  4. Diese Erhebung mit ca. 3.300 Fragebögen ist die umfangreichste bei Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. []
  5. Die Praxis der Verteidigerbestellung durch den Richter – von der Rechtswirklichkeit der Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO – als Folien hier zum Download []

4 Kommentare zu “Pflichtverteidiger für Beschuldigte in Untersuchungshaft

  1. Einmal habe ich einen Ermittlungsrichter erlebt, der dem Beschuldigten nach der Belehrung über sein Schweigerecht sagte: „Ich gebe Ihnen einen väterlichen Rat: sagen Sie lieber nichts.“ Das hat mir sehr imponiert.

  2. Wie sind eigentlich diese Forderungen mit der aus derselben Ecke stammenden Forderung vereinbar, dass Ermittlungsrichter die Pflichtverteidiger stumpf nach Liste auswählen sollen?

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