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Einstellung des Strafverfahrens mit abwegigen Erwägungen

Regelmäßig beklagen Staatsanwaltschaften eine Arbeitsüberlastung, der sie einfach nicht mehr Herr werden – egal ob in Hamburg, Berlin, Düsseldorf oder Stuttgart. Stellen werden nicht nachbesetzt, obwohl Anzahl und Umfang der Verfahren steige.

Jeder Referendar wird in seiner Station bei der Staatsanwaltschaft diese Aktenberge gesehen haben, die Tag für Tag unerbittlich in das Dienstzimmer des Staatsanwalts geschoben wurden. Die meisten Staatsanwälte nehmen die Stapel auf dem Aktenbock klaglos hin, deren Tagesaufgabe darin besteht, möglichst viele dieser Strafakten von der Eingangs- auf die Ausgangsseite herüberzuwälzen. Die Akten, bei denen das nicht gelingt, türmen sich dann bedrohlich überall zu Aktenbergen im Dienstzimmer auf, überall auf dem Fußboden verteilt und an den Wänden hochgestapelt. Ein Staatsanwalt aus dem Saarland, der mittlerweile den Dienst quittiert hat, wollte diese Situation nicht länger hinnehmen: „Desillusionierend“ nennt er rückblickend seine Erfahrungen bei der Anklagebehörde, es gebe eine „amtsanmaßende Ignoranz“ und darüber hinaus einen „respektlosen Umgang“ mit den Justizbediensteten, die wegen Personalnot permanentem Erledigungsdruck ausgesetzt seien. Er klagte über monatliche Eingangszahlen von bis zu 180 neuen Verfahren – zusätzlich zu den noch laufenden Verfahren.

Es geht darum, Akten möglichst schnell vom Tisch zu schaffen

Es gilt für die Staatsanwälte eine persönliche Strategie zu finden, die Akten möglichst schnell wieder „loszuwerden“. Schließlich geben hohe Aktenberge kein schönes Bild ab und stellen auch eine nicht zu unterschätzende psychologische Belastung dar. Es soll sogar Staatsanwälte geben, die ihre Akten vor lauter Verzweiflung im Kleiderschrank versteckt haben – Hauptsache, sie mussten die nicht mehr sehen. Andere geben die Akten, nur damit das Büro einen sauberen Eindruck macht, für weitere (unsinnige) Ermittlungen an die Polizei zurück oder verfügen eine Wiedervorlage. Dadurch werden die Ermittlungsakten dann (für beispielsweise vier Wochen) in einem Fach der Geschäftsstelle gelagert, ohne dass irgendetwas damit passiert. Das sind natürlich nicht repräsentative Einzelfälle und es gibt eine ganz überwiegende Anzahl Staatsanwälte, die weitaus bessere Strategien entwickelt haben, mit der Arbeitsbelastung fertig zu werden – aber auch diese Einzelfälle bilden die Realität ab.

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Eine vom Umfang her eher noch „dünne“ Ermittlungsakte // Foto: Susann von Wolffersdorff / pixelio.de

Wer gründlich arbeiten und den Inhalt einer Akte einigermaßen ausführlich studieren oder gar reflektieren will – das Einzelschicksal genauer ansehen möchte – ist bei der Staatsanwaltschaft wohl fehl am Platz. Das bekommen schon Referendare mit auf den Weg gegeben, die in den schriftlichen Klausuren aberwitzig komplexe Verfahren in fünf Zeitstunden bearbeiten müssen – inklusive einem materiell-rechtlichen Gutachten, der Abschlussverfügung und Anklageschrift.

Man kann den täglichen Aktenanfall bildlich beschreiben, wie der bereits erwähnte ehemalige Staatsanwalt David Jungbluth es im Interview mit Telepolis treffend formuliert:

Es ist wie ein Fließband, das stetig in hohem Tempo weiterläuft. Sollte man zu viel Zeit darauf verwenden, sich mit einem einzelnen Fall zu beschäftigen, rächt sich das bitter, weil das Band halt – ohne Rücksicht auf die etwaige Komplexität eines einzelnen Falles – weiter Fälle liefert. Man wird dadurch quasi dazu gezwungen, Verfahren mehr oder weniger oberflächlich zu bearbeiten, möchte man vermeiden, dass man nicht irgendwann mit seinem ganzen Laden absäuft.

Einstellung durch die Staatsanwaltschaft schon im Ermittlungsverfahren

Folge der hohen Arbeitsbelastung ist eine Einstellung von vielen Fällen schon im Ermittlungsverfahren. In der Praxis führe dies zu einer bewusst in Kauf genommenen Verschleppung oder zu befremdlichen bis sogar abwegigen Erwägungen, das Verfahren – unsachgemäß – einzustellen. Freilich ohne den Schuld des Täters genauer zu untersuchen. Für die Opfer von Straftaten ist das oftmals schwer nachvollziehbar – für ihre Rechtsanwälte schwer vermittelbar. Und dennoch muss großzügig von der Einstellung Gebrauch gemacht werden, da die Justiz sonst unter der Last der Verfahren zusammenbrechen würde.

Die Strafprozessordnung hält mit den §§ 153 – 154a StPO Einstellungs- sowie Beschränkungsnormen für jede Gelegenheit parat, wegen Geringfügigkeit bei geringer Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung ohne Auflagen (§ 153 StPO), gegen Auflagen oder Weisungen (§ 153a StPO), bei Absehen von Strafe (§ 153b StPO), die bei Mehrfachtaten von der Verfolgung absehen (§ 154 StPO) oder diese beschränken (§ 154a StPO). Akzeptiert ein Täter die Einstellung gegen Auflagen, wird er es wohl auch gewesen sein, so die Überlegung. Die Auflage kann z.B. eine Geldzahlung sein, von wenigen Hundert bis zu 75 Millionen Euro ist alles möglich.

Eine pönale Quote gibt es … nicht?

Selbstverständlich – auch das ist allen Beteiligten bewusst – müssen auch Verfahren angeklagt werden. Es liege folglich nahe, tendenziell komplizierte Verfahren besser früh einzustellen und dagegen eher „Standardfälle“ anzuklagen, um die Arbeitsbelastung möglichst auf einem erträglichen Niveau zu halten. Dass es eine „pönale Quote“ (Strafquote) gebe, wonach mindestens 20 Prozent aller Verfahren mit einer Anklage oder einem Strafbefehl abgeschlossen werden sollen, wird behördenseitig allerdings allgemein bestritten. Dass es eine bestimmte Einstellungsquote geben muss, liegt in der Natur der Sache und kann wohl nicht ernstlich bestritten werden.

Im Zweifel gegen die Anklage

Ein Kompromiss zwischen Arbeitsüberlastung und Einstellungsquote ist oftmals der Weg über den Strafbefehl (§§ 407 ff. StPO). Damit wird alles weggebügelt, was noch halbwegs vertretbar erscheint, auch wenn das von der Strafprozessordnung so nicht vorgesehen ist. Voraussetzung eines Strafbefehls ist nämlich, dass die Staatsanwaltschaft nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält. Dann kann sie die Rechtsfolge, häufig eine Geldstrafe, einseitig und ohne Hauptverhandlung festsetzen; das zuständige Gericht erlässt den Strafbefehl dann. Der Beschuldigte kann sich mit einem Einspruch gegen den Strafbefehl zur Wehr setzen – dann käme es zur Hauptverhandlung. Im Prinzip aber eine effektive Weise ein Strafverfahren abzukürzen, was durchaus auch im Sinne des Beschuldigten sein kann.


5 Kommentare zu “Einstellung des Strafverfahrens mit abwegigen Erwägungen

  1. „Es gilt für die Staats­an­wälte eine per­sön­li­che Stra­te­gie zu fin­den, die Ak­ten mög­lichst schnell wie­der „los­zu­wer­den“.“

    Genau. Es ist auch nichts Neues, dass die meisten Verfahren ( fast alle ) schon immer eingestellt wurden, und es eher punktuell zu Urteilen kam.

    Dass dies in einem gewissen Kontrast steht zum Tatort am Sonntagabend und den ganzen amerikanischen Krimiserien, mit der Bundesbürger früher geflutet wurden und werden, ist frustrierend, aber unvermeidlich. In der virtuellen Welt der Krimiserien wird am Ende immer der Böse geschnappt, verfolgt von Supercops mit Maserati und Pumpgun. Da dies meist für die Realität gehalten wird kommt dem Fernsehen eine ganz erhebliche genaralpräventive Wirkung zu. Die realen Statistiken sollte man lieber nicht erwähnen.

    Der Sinn des Strafrechts ist nicht unbedingt, die Interessen der Bürger zu vertreten, sondern einen „Strafanspruch“ ( also Machtanspruch ) durchzusetzen ( h. M. ), in jüngerer Zeit „Feinde“ zu bekämpfen.

    Daher haben wir es mit einer massiven Aufrüstung im Bereich der politischen Polizei zu tun, einer
    Militarisierung, einer Vermischung verschiedener Bereiche ( Polizei, Geheimdienst, Militär ) und einer Reduktion der Ressourcen im Bereich der Strafjustiz.

    Letztere befasst sich zum ganz überwiegenden Teil mit – Verkehrsdelikten und Drogenkleinkram.
    Oder einer Kombination aus beidem.

    Man müsste etwa 10 Paragrafen des StGB ändern und gewisse Verhaltensweisen zu Ordnungswidrigkeiten hinunterstufen, um eine glatte 70-80%-Arbeitserleichterung zu erzielen und damit die Zahl der ersehnten Kaffepausen deutlich zu erhöhen.

  2. In Hessen wird seit Jahren kontinuierlich nicht nur die Justiz drastisch dezimiert, sondern auch die uniformierte Vollzugspolizei. Die Ergebnisse kann man dann beispielsweise in ländlichen Regionen wie dem Odenwald bewundern, wo es für gigantische Gebiete mit Landstraßen und Mittelgebirgsterrain genau einen Streifenwagen gibt. Wenn man den gerade im Süden ablenkt, kann man im Norden einen Raubzug veranstalten. In den Städten wie Frankfurt/Main (von den verlorenen Gazastreifen wie Offenbach/Main mal ganz zu schweigen) wird dann vor dem Gericht eine Schießerei veranstaltet und es werden Zeugen in der U-Bahn verfolgt und aufgeknüpft. Oder bei einer Gaza-Demo ist die Polizei mangels Bereitschaftspolizeikräften (in Hessen weitgehend abgeschafft) so in der Unterzahl, dass sie den Salafisten das Megaphon überlassen muss und auf der Zeil (!) mit Steinen beworfen wird.

    Die Polizeibeamten an der Basis haben einen gewissen Zynismus entwickelt, den sie zum Teil am Bürger ausleben, zum Teil in sich hineinfressen. Verdenken kann ich es ihnen nicht.

    Zur Belastung der Staatsanwälte:

    Man könnte sicherlich das sog. „Schwarzfahren“ zur OWi machen und damit ca. ein Fünftel der Akten vom Tisch holen. Außerdem erspart man Kleinkriminellen und Beschaffungskriminellen das ewige Leid.

    Bei anderen Tätern / Delikten frage ich mich, wann diese endlich aus dem Verkehr gezogen werden und warum eigentlich ,,nie etwas passiert“. Und das als Strafverteidiger :-)

    In Deutschland ist es fast unmöglich, ein Ticket für’s Falschparken nicht zu bezahlen, Halterhaftung für die Kosten inklusive. Beim StGB kann man sich recht ungeniert bedienen. Das ist alles reichlich pauschal, aber ich glaube hier deckt sich der Eindruck der Gesamtbevölkerung mit dem fachlichen Einblick aus dem Berufsleben.

    Eine mir bekannte Staatsanwältin räumt zwar ein, dass die ,,ersehnten Kaffeepausen“ noch in den 90er Jahren an der Tagesordnung waren und das sicherlich goldene Zeiten waren. Auf der anderen Seite war auch die Zeit da, mal einen Kommentar zur Hand zu nehmen und einen Fall auch materiell-rechtlich korrekt aufzuarbeiten oder weitere Ermittlungen anzustellen. Heute sitzt man in Hessen mit der Stoppuhr an der Akte. Je nach Delikt sind Zeitkontingente vorgeschrieben. So kann es dann passieren, dass für „§ 242 – einfacher Fall“ kalkulatorisch eben nur 10 Minuten veranschlagt sind. Auf die obige Fließband-Metapher nehme ich hier Bezug.

  3. Ich bin seit ca. 3 Jahren voll in den Mühlen der Justiz gefangen und erlebe keine einzige Erfolgsgeschichte.
    Einstellungen, Einstellungen, Einstellungen, egal ob mit Zeugen, mit Arztbesuche, mit Beweislagen – mein Gegner kann Körpergewalt ausüben, mir durch Falsche Behauptungen und Verleumdungen beim Amtsgericht eine Prozesskostenhilfe vergällen wollen, indem er mir nachsagt, ich ware 10 Jahre Prostituierte gewesen, hätte 100.000,– Schwarzgeld verdient, hätte Hunde gestohlen, in meinem eigenen Haus wo ich nicht lebe, aber er, Hausfriedensbruch begangen, die Azeigen ware vielfältig……………..
    Ich bin sehr entsetzt, dass einfach nichts passiert. Den Artikel von D. Jungblut kenne ich. Wer über Jahre all das erlebt, bekommt ein Gespür dafür was hier läuft.

    ich könnte Bände schreiben und jedem abraten, vor Gericht zu gehen, wenn es nicht sein muss. 70 % Verfahren warden angesterebt, die Parteien unter Druck gesetzt und die Anwälte belohnt, wenn sie einen Vergleich herbeiführen.

    es ist ein Wahnsinn wenn man als Opfer eines Psychopathen/Soziopathen auch von der Justiz keine Unterstütztung erfährt und am Ende nur erschöpft zurück bleibt und sich die Finger wund tippet, um Gerechtigkeit zu erfahren.

  4. Der deutsche Gesetzgeber sollte sich mal dringend Gedanken über ein Deviationsregelwerk Gedanken machen, wie es die Österreicher haben. Die österreichische Geringfügigkeitseinstellung analog § 153 StPO§ 191 StPO AT ist übrigens eine Sollvorschrift. Und das ohnehin rechtsstaatlich bedenkliche Strafbefehlsverfahren wird dadurch nicht eben unbedenklicher. Der Gedanke der nachträglichen Unterwerfung durch Verzicht auf Rechtsmittel beim Strafbefehl und eingeschränkt auch beim Bußgeldbescheid ist vorkonstitutionell. Eine Abwägung ist keine Unterwerfung. AT und IT kennen keinen Strafbefehl – Italien wohl ein abgekürztes Verfahren ohne erneute Beweisaufnahme.

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