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Die Offensichtlichkeit der Unbegründetheit

Offensichtlich unbegründet („o.u.“) soll eine Revision dann sein, wenn für jeden Sachkundigen ohne längere Prüfung erkennbar ist, dass die Revisionsrügen das Rechtsmittel nicht begründen können.1 Dann jedenfalls wird eine Revisionshauptverhandlung das gefundene Ergebnis weder in rechtlicher noch tatsächlicher Art in Zweifel ziehen können. Was allerdings offensichtlich ist, liegt im weiten Ermessensspielraum des Revisionsgerichts, dessen Grenze erst die Willkür ist.2

Mehr als 80 Prozent aller eingelegten Revisionen werden von den Strafsenaten als offensichtlich unbegründet verworfen; bei Revisionen, die lediglich mit der allgemein erhobenen Sachrüge begründet werden, liegt die Misserfolgsquote gar bei 92 Prozent.

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Wenig prätentiös: Beratungszimmer eines Strafsenats am Bundesgerichtshof // Foto: ComQuat (CC BY-SA 3.0)

Beschlussverwerfung als offensichtlich unbegründet gem. § 349 Abs. 2 StPO

Wie lang kann, muss oder darf eine „längere“ Prüfung sein? Wem muss es „offensichtlich“ sein? Das wird regelmäßig vom präsenten Kenntnisstand des jeweiligen Richters abhängen und birgt mitunter auch die Gefahr, dass ein „sachlich richtiges“ Urteil gehalten werden soll und daher allzu leicht eine offensichtliche Unbegründetheit angenommen wird.3 Vielmehr sind es eher das Antrags- und das Einstimmigkeitserfordernis, die das Missbrauchsrisiko hinreichend senken. Im letzten Jahr entbrannte erstmals eine Diskussion, ob alle Senatsmitglieder das angefochtene Urteil und die Revisionsbegründung gelesen haben müssen („Zehn-Augen-Prinzip“) oder ob es ausreicht, dass Vorsitzender und Berichterstatter dies getan haben und die übrigen Senatsmitglieder durch mündlichen Vortrag unterrichtet werden, wie es der bisherigen ständigen Praxis des Bundesgerichtshof entspricht.

Zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung für die Verwerfung gem. § 349 Abs. 2 StPO ist jedoch der Verwerfungsantrag der Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht (durch Generalbundesanwalt oder Generalstaatsanwaltschaft). Dieser setzt eine eigene, unabhängige Prüfung der Erfolgsaussichten voraus, deren Grundlage ausschließlich die Revisionsbegründung und eventuell nachgeschobene Ausführungen des Revisionsführers bildet. Unzulässig ist danach, wenn das Revisionsgericht der Staatsanwaltschaft seine – wenn auch vorläufige – Sichtweise vorab mitteilt, um auf eine Antragstellung hinzuwirken.4

Beantragt der Generalbundesanwalt allerdings, die Revision als unbegründet zu verwerfen, folgt der Strafsenat zu ca. 90 Prozent dieser Entscheidung. Statistisch beantragt der Generalbundesanwalt bei Angeklagten in mehr als neun von zehn Fällen die Verwerfung der Revision. Dabei ist interessant, dass bei Bundesanwälten teils individuelle Verwerfungsquoten festzustellen sind: Einige beantragen immer die Verwerfung, andere „nur“ in etwa 70 Prozent.5

Keine trennscharfe Grenze wie offensichtlich die Unbegründetheit sein muss

Die Erörterung, was eigentlich „offensichtlich“ sei, hält Sarstedt ohnehin für „unfruchtbar“.6 Die Offensichtlichkeit sei ein „Erlebnis“ – man habe es oder eben nicht. Wem etwas offensichtlich sei, für den grenze die Forderung, er solle dies begründen, ans Alberne. Des Weiteren entspreche es kaum der Würde des Gerichts letzter Instanz, den Verfasser einer Revisionsbegründung über häufig einfachste Grundsätze des Revisionsrechts aufzuklären, die so in jedem Elementarbuch nachgelesen werden könnten.

Das Erfordernis der Offensichtlichkeit entzieht sich danach der objektiven Begriffsbestimmung. Man kann sich nur schwer darüber unterhalten, ohne zu fragen: wem offensichtlich? Sarstedt, der drei Jahre Mitglied eines Strafsenats beim Oberlandesgericht, 26 Jahre Mitglied eines Strafsenats beim Bundesgerichtshof – davon mehr als 21 Jahre als Vorsitzender – und 24 Jahre als Mitglied des Großen Strafsenats gewesen ist, räumt dennoch ein, dass auch ihm Revisionen durch Beschluss als offensichtlich unbegründet verworfen worden seien, von denen er das nicht für möglich gehalten hätte.7

Keine Rolle für die Beschlussverwerfung spielt auch der Umfang der Revisionsbegründung, die Anzahl der darin erhobenen Rügen und der für ihre Bearbeitung erforderliche Zeitaufwand.8 Für den Verteidiger ist das denkbar undankbar. Ein prominenter Strafverteidiger erzählt gerne von seiner ersten Revision, die dieser in mühevoller Kleinarbeit auf etwa 600 Seiten noch auf einer Schreibmaschine getippt hatte. Darauf folgte vom Bundesgerichtshof der unselige Einzeiler:

Die Revision wird als offensichtlich unbegründet verworfen.

Seitenlange Ergänzungen und doch offensichtlich?

Lässt sich das Revisionsgericht trotz der o.u.-Verwerfung zu langen „Ergänzungen“ hinreißen, so kann dies zwar zu Zweifeln hinsichtlich der Offensichtlichkeit führen – oftmals betreffen die Ausführungen jedoch Rechtsfragen, die zwar im vorliegenden Fall den Revisionsführer („offensichtlich“) nicht beschweren, deren Wiederholung in anderen Fällen aber entgegengetreten werden soll. Sie dienen demnach schlicht der Abgrenzung und Klarstellung.

 

  1. BVerfG NStZ 2002, 487 (489); BGH NStZ 2003, 103; Beulke, Strafprozessrecht (9. Aufl. 2006) Rn. 569 []
  2. BVerfG NStZ 2002, 487 (489) []
  3. vgl. Dahs NStZ 2001, 298; Sarstedt/Hamm: Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. (1983) Rn. 464. []
  4. BVerfG NStZ 2000, 382 []
  5. vgl. Barton/Schubert: Die letzte Instanz. Wie arbeitet der Bundesgerichtshof in Strafsachen?, in: Universität Bielefeld (Hrsg.), Forschung an der Universität Bielefeld, Heft 18, 1998, S. 2 ff. []
  6. Sarstedt/Hamm: Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. (1983) Rn. 469 []
  7. Sarstedt/Hamm: Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. (1983) Rn. 463 []
  8. BGH NStZ-RR 2000, 295 []