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EGMR: Kein Freispruch zweiter Klasse

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte könnte weitreichende Auswirkungen haben: Die Richter stellten klar, dass ein Freispruch ein Freispruch ist und es gegen den Zweifelsgrundsatz („in dubio pro reo“) verstoße, trotzdem im Urteil eine Schuld des Freigesprochenen zu unterstellen. Ein Freispruch dürfe demnach in den Urteilsgründen nicht zu einem Freispruch „zweiter Klasse“ degradiert werden, indem sich das Gericht selbst widerspricht.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg // Foto: Adrian Grycuk (CC BY-SA 3.0 PL)

Widerspruch in den Urteilsgründen

Das Landgericht Münster hatte den Angeklagten im Ausgangsverfahren (1 KLs 5/08) zwar freigesprochen, jedoch folgende Feststellungen im Urteil getroffen:

So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist. Die Taten ließen sich aber dennoch weder ihrer Intensität noch ihrer zeitlichen Einordnung nach in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren. Die Inkonstanzen in den Aussagen der Zeugin waren so gravierend, dass konkrete Feststellungen nicht getroffen werden konnten.

Ein Freispruch ist ein Freispruch

Die Verfassungsbeschwerde gegen diese Form der Nachverurteilung wurde vom Bundesverfassungsgericht jedoch nicht zur Entscheidung angenommen (2 BvR 2499/08). Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg stellte klar, dass im Falle eines Freispruchs in den Urteilsgründen Ausführungen dahingehend, dass das Gericht entgegen des Urteilstenors gleichwohl der Auffassung sei, an den Vorwürfen „sei etwas dran“, menschenrechtsverletzend seien. Diese Ausführungen stellten einen Verstoß gegen den international geltenden Zweifelssatz – im Zweifel für den Angeklagten – dar, der in Art. 6 Abs. 6 EMRK festgeschrieben ist:

Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

Ein Grundsatz übrigens, dem sich Staatsanwälte, Richter und auch einige Rechtsanwälte allzu gern verschließen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde durch die Entscheidung des EGMR zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 10.000 Euro verurteilt.

EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – 48144/09 (CASE OF CLEVE v. GERMANY)


8 Kommentare zu “EGMR: Kein Freispruch zweiter Klasse

  1. Ich meine, dieses neue Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
    Menschenrechte könnte auch in Sachen der Revision Gustl Mollaths
    eine Rolle spielen. Ich habe Dr. Adam Ahmed informiert.

  2. Das Urteil des EGMR scheint in Konflikt zu stehen mit der Pflicht der Strafgerichte, ihre Urteile zu begründen. Insbesondere enthält § 267 Abs. 5 StPO die Verpflichtung, zu begründen, warum jemand freigesprochen wird. Wird dies nicht begründet oder nur pauschal in der Art, dass das Gericht ausführt, dass es sich keine ausreichende Überzeugung über die Tatsachengrundlage für eine Verurteilung bilden konnte, dürfte das Urteil auch keinen Bestand haben.

    Mal abwarten, wie sich dieser Konflikt lösen lässt.

    • @Oliver Twist: Ich denke – wie ich oben bereits geschrieben habe – darf sich das Gericht in den Urteilsgründen nicht selbst in Widerspruch setzen. Entweder es hält einen Angeklagten für schuldig – dann muss das Gericht verurteilen oder es hält ihn für unschuldig – dann muss es freisprechen, darf dann aber in den Gründen nicht ausführen, warum er doch schuldig sein könnte. Insoweit muss sich das Gericht eine Überzeugung bilden.

    • @Oliver Twist: Einen Konflikt gab es da gar nicht. Der aussagepsychologische Sachverständige war zu dem klaren Ergebnis gekommen, dass die Angaben meiner Tochter nicht erlebnisbasiert waren. So sah es auch der vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung, in der er die Gründe dafür aufzählte, dass die Aussagen nicht glaubhaft sind, und darüber spekulierte, warum meine Tochter sich das ausgedacht haben könnte. Was ihn dann geritten hat, in der schriftlichen Urteilsbegründung rechts- und wahrheitswidrig eine Kehrtwende um 180°, von ausgedacht zu realem Hintergrund, zu machen, das kann nur er selbst erklären.

  3. Also zeigte sich auch hier mal wieder, was der Unterschied zwischen dem ist, was wörtlich im Gesetz steht und dem, wie die gängige Praxis ist,. Will heißen , was los ist in dem Land, das mit schwarz-rot-bananenfarbigen Landesfarben beschrieben wird und für das man sich von Tag zu Tag mehr schämen muß.

    • @Carla Columna:

      Die gängige Praxis der Juristerei war noch nie in der deutschen (nicht nur bundesdeutschen) Geschichte so liberal, Grundrechten und und Grundsätzen verpflichtet. Der Volkstribun, den heute noch viele gerne hätten, gibt es nicht mehr. Auch überaus peinliche Kapitel deutscher Rechtspflege, wie „Rosa Listen“, die einem Rechtsstaat unwürdig sind, sind Geschichte.

      Inzwischen nimmt man sogar Art. 103 II GG ernst und verabschiedet sich von aus den Fingern gezogenen Konstrukten, wie der actio libera in causa, mit der man lange versuchte das persönliche (und irrelevante) Judiz über Strafbarkeitslücken zu stellen.

      Auch finde ich bezeichnend, dass in den 1960ern der brave deutsche Bürger nichts über seine Justiz kommen ließ und die 68er Revoluzer hätte mancher gerne der Obhut einer früheren Justiz übergeben. Und je liberaler, grundrechtsfreundlicher und methodisch sauberer unsere Justiz wurde und wird, desto lauter und agressiver im Ton wird die Kritik an ihr. Das kann ich nicht nachvollziehen. Im Übrigen gehört auch das EGMR zu unserer Rechtspflege, dieses Urteil erging ja nicht „feindlich“ gegen das deutsche Rechtswesen, sondern die Bundesrepublik ist der EMRK beigetreten und Urteile des EGMR sind auch zu beachten (ohne in Details zu gehen). Damit zeigt unser Rechtssystem, welches eben längst auch eine europäische Dimension hat (vgl. auch EuGH), gerade, dass es funktioniert und nichts ist, wofür man sich schämen muss, sondern worauf man stolz sein kann.

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