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Ermittlungen wegen Tatort-Video in „Bild“

Noch ist der Tod der Studentin Tuğçe nicht vollständig aufgeklärt. Aufschluss über unbekannte Fakten sollte das Video einer Überwachungskamera liefern, die den Parkplatz des Offenbacher Fastfood-Restaurants filmte, auf dem sich das mutmaßliche Tatgeschehen ereignete.

Eine große deutsche Tageszeitung schlachtet die öffentliche Anteilnahme seit Tagen auf bisher wohl beispiellose Weise aus, wie der BILDblog berichtet:

49 Artikel haben „Bild“, Bild.de und die „Bild am Sonntag“ seit dem Vorfall rausgehauen, im Schnitt fast drei Artikel täglich. Sie zeigten unzählige Fotos des Opfers und des mutmaßlichen Täters (meist von Facebook kopiert und natürlich kein bisschen verpixelt), veröffentlichten private Details, Informationen aus dem Krankenhaus („Nach BILD-Informationen begann gegen 21.30 Uhr die Organentnahme“), besuchten den Tatort, die Trauerfeiern, den Friedhof, die Moschee, die JVA, fotografierten Trauernde, wühlten in Facebook-Profilen, bastelten Klickstrecken, aber offensichtlich war die Gier der lüsternen „Bild“-Macher und -Leser damit immer noch nicht befriedigt.

Tatort-Video zuerst „exklusiv“ im Internet – gegen Bezahlung

Denn am Montag folgte „exklusiv“ in „Bild“ als auch bei Bild.de die Veröffentlichung von Szenen dieses Videos der Überwachungskamera – „die letzten Minuten, die Tugce bewusst erlebte!“ – detailliert dokumentiert – die entscheidenen Momente hat die Redaktion sogar extra von einem Illustrator nachzeichnen lassen. Zu sehen ist, wie ein Mensch nach einem Schlag zu Boden fällt und liegen bleibt. Die Sequenz zeigt auch, wie ein junger Mann zuvor versuchte, den anderen an dem Angriff zu hindern. Selbstverständlich gab es die „Premium“-Inhalte nur hinter der Paywall von „Bildplus“, also gegen Bezahlung.

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Unkenntlichmachutg durch den BILDblog // Foto: Bildblog

Zurecht zeigten sich auch die Eltern des Opfers entsetzt und verurteilten die Veröffentlichung als „bodenlose Frechheit“: „Ihr könnt euch vorstellen, wie es für die Eltern oder Brüder sein muss, ihre geliebte Tuğçe „live“ sterben sehen zu müssen.“ Das Video sei ohne ihr Einverständnis ins Internet gestellt worden. „Bild“ habe sich inzwischen bei der Familie entschuldigt.

Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen ein

Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Darmstadt (Zweigstelle Offenbach) wie das Beweismittel bei „Bild“ landete. Es handele sich bei dem Tatort-Video um ein unmittelbares Beweismittel, das nicht in die Öffentlichkeit gehöre, sondern vor Gericht analysiert und bewertet werden müsse. Die Staatsanwaltschaft will insbesondere herausfinden, vom wem die Zeitung das Tatort-Video bekommen hat. Sie ermittelt „gegen Unbekannt“.

Es scheint, also ob mittlerweile einige Medien – nicht nur in diesem Fall – quasi unbeschränkten Zugriff auf Ermittlungsakten hätten. Was in den letzten Jahren regelmäßig an die Presse durchsickert ist eines Rechtsstaats unwürdig. Durch die Veröffentlichung unmittelbarer Beweismittel bestehe die Gefahr, dass Zeugen in ihrer Aussage manipuliert werden könnten. Dadurch werden subjektive Erinnerungen an das Geschehen eingefärbt, so beeinflusst in Erinnerung bleiben und damit ganz erheblich an Wert verlieren.

Auch die vielfachen Interpretationen des Videos, die im Vorfeld eines Prozesses über die Medien verbreitet würden, könnten einen Einfluss auf Zeugenaussagen haben – womöglich auch auf die Schöffen in einem Gerichtsverfahren. Deshalb ist nach § 353d Nr. 3 StGB strafbar, die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens ganz oder in wesentlichen Teilen im Wortlaut öffentlich mitzuteilen, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind (oder das Verfahren abgeschlossen ist). Da ausdrücklich nur „Schriftstücke“ von der Norm erfasst sind, hat sich „Bild“ bei dem Tatort-Video eine Schutzlücke zunutze gemacht.


4 Kommentare zu “Ermittlungen wegen Tatort-Video in „Bild“

  1. Nach § 353 d Nr. 3 StGB ist straf­bar, die An­kla­ge­schrift oder an­dere amt­li­che Schrift­stü­cke ei­nes Straf­ver­fah­rens ganz oder in we­sent­li­chen Tei­len im Wort­laut öf­fent­lich mit­zu­tei­len, be­vor sie in öf­fent­li­cher Ver­hand­lung er­ör­tert wor­den sind, oder das Ver­fah­ren ab­ge­schlos­sen ist. Aus­drück­lich sind nur „Schrift­stü­cke“ von der Norm er­fasst. Und da nur bestraft werden kann, was tatbestandlich festgelegt ist, bevor eine vermeintliche Tat begannen wurde, dürften die Verantwortlichen bei der „Bild“ infolge einer Strafbarkeits­lü­cke nicht zu bestrafen sein. Es gibt nämlich keine Analogie im Strafrecht in malam partem, sprich zuungunsten eines Angeklagten/Beschuldigten.

    Gleichwohl ist m.E. diese – seit langem auch von mir bemängelte Strafbarkeitslücke – durch den Gesetzgeber nunmehr endlich zu schließen, indem er den entsprechenden Straftatbestand etwa wie folgt erweitert: oder amtliches Beweisstücks (Foto, Video, Tonbandaufzeichnug, Datensatz oder sonstgien verkörperten Aufzeichnung).

  2. Wenn das Video von einer privaten Überwachungskamera stammen sollte, wundere ich mich etwas über die Mutmaßungen, daß hier von Seiten der Ermittler Material an Bild geliefert worden sein könnte.
    Abgesehen davon, dass ich die Bild-Methoden und heuchlerische Berichterstattung und -erfindung moralisch bodensatznah ansehe, gerade bei einem derart tragischen Todesfall, halte ich die Argumentationen für etwas fadenscheinig. Wo steht denn, dass es untersagt ist,“Beweismittel“ die vielleicht eben nicht (nur) in amtlichem Gewahrsam sind, zu veröffentlichen? Und wer „zwingt“ denn die Angehörigen, sich bei Bild durch die Paywall zu Klicken?

    Die Argumentation mit der Zeugenbeeinflussung greift auch dann, wenn die Polizei zu Fahndungszwecken (siehe die diversen Ubahn-Schläger und – Schubser in Hamburg, Berlin, München) Videos und Bilder veröffentlicht.

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