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Zwischen Kaffeesatz und Wahrheit

Sachverständige sind aus dem Justizalltag nicht mehr wegzudenken. Wann immer ein Gericht nicht weiterkommt, beauftragt es einen oder mehrere Sachverständige.1 Diese beurteilen dann im Strafprozess die Spuren der Tat, die Verletzungen der Opfer oder auch die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Sie vermitteln dem Gericht den Sachverstand, den sie aufgrund ihrer Ausbildung haben, dem Gericht – in der Person des Richters – aber fehlt.

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Oft geht es nicht ohne: Sachverständigen-Gutachten in der Strafakte // Foto: plumbe / pixelio.de

Wahrscheinlichkeit, nicht Wahrheit

Immer wieder stehen Sachverständige oder ihre Gutachten in der Kritik – mal berechtigt, häufig weniger berechtigt. Die Sachverständigen haben ohne Frage im Verfahren oft außerordentlich großen Einfluss auf das Urteil, auch wenn sie lediglich die Vorarbeit leisten, wie Renate Volbert vom Berliner Institut für Forensische Psychiatrie in Berlin betont:

Letztlich machen wir in Gutachten Wahrscheinlichkeitsaussagen, die Beweisbeurteilung obliegt dem Gericht.

Volbert war maßgeblich am Prozess beteiligt, als der 1. Strafsenat am Bundesgerichtshof 1999 Mindestanforderungen für aussagepsychologische Begutachtungen festschrieb, die bis heute das Maß der Dinge für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Strafprozess sind (BGHSt 45, 164). Meistens geht es darin um die Frage, ob eine Aussage durch bloße Suggestion entstanden sein könnte, etwa wenn ein Kind durch wiederholte intensive Befragungen eine Pseudoerinnerung aufgebaut hat: Es glaubt dann fest, das Geschehen selbst erlebt oder gar erlitten zu haben. Das kann allerdings auch der Fall sein, wenn das Kind mit der Erwartung einer bestimmten Aussage unbewusst (oder manchmal auch bewusst) unter Druck gesetzt worden ist.

Manchmal geht es tatsächlich darum, Lügner zu überführen. Hier können Indizien weiterhelfen:

Wir haben nicht nur die Aussage, sondern auch die Aussagegeschichte, so können wir analysieren, ob sich Teile der Aussage im Laufe der Vernehmungen verändert haben.

Volbert räumt jedoch ein, dass ein psychologischer Sachverständiger einem intelligenten und kaltblütigen Lügner nur schwerlich auf die Schliche kommt. Es geht um Wahrscheinlichkeiten, nicht um die Ermittlung der Wahrheit – wie soll das auch funktionieren: Man kann Zeugen eben nicht hinter die Stirn gucken.

Nicht weit von der Kaffeesatzleserei entfernt

Problematisch ist insbesondere die Qualität einiger Gutachten, die – auch heute noch – nicht einmal den vom BGH festgelegten Mindestanforderungen entsprechen. Das Problem ist keineswegs neu, es mangelt schlicht an einer Lösung, wie auch Hans-Ullrich Paeffgen konstatiert:

Die wirklich guten Leute sind überlaufen. Angesichts der Masse der Fälle wird nicht immer akribisch genug gearbeitet. Bisweilen werden die Kandidaten gar nicht persönlich in Augenschein genommen. Manche Gutachten sind von der Kaffeesatzleserei nicht weit entfernt. (…) Trotzdem sehen viele Richter die Gutachten nicht als Beratung, sondern nehmen das Ergebnis zum Nennwert.

Psychiater oder Psychologen brauchen keine Zusatzqualifikation, um Gutachten für ein Gericht anzufertigen. Es obliegt allein dem Richter, ob es einen Sachverständigen für qualifiziert hält – eine formale Hürde gibt es nicht. Und solche Gutachten werden in der Regel gut bezahlt und sind somit ein attraktiver Nebenverdienst.

Prognosegutachten: Vom Schuld­straf­recht zum Prä­ven­ti­ons­straf­recht

Tatsächlich kritisch zu beurteilen sind Prognosegutachten, die eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten treffen.2 Michael Alex dokumentierte in seiner Dissertation3 77 Fälle von Straftätern, bei denen die Staatsanwaltschaft, in einigen Fällen auch die Justizvollzugsanstalt, nach Verbüßung der Freiheitsstrafe beantragt hatte, den Betroffenen in die Sicherungsverwahrung zu überführen. In allen 77 Fällen attestierten Prognosegutachten dem Täter höchste Gefährlichkeit. Trotzdem lehnten die Gerichte die Unterbringung ab. Der Autor verfolgte die Fälle weiter mit dem Resultat, dass nur vier der 77 Delinquenten im zwischen anderthalb und sechs Jahren dauernden Beobachtungszeitraum wieder einschlägig straffällig wurden, zwei durch Sexualdelikte, zwei als Räuber. Die übrigen 73 Straftäter hätten die Richter – wären sie den Gutachten gefolgt – jahrelang weiter zu Unrecht eingesperrt.

Zusammenfassend konnte Alex feststellen, dass negative Prognosegutachten meist fortgeschrieben werden. Ein Nachfolgegutachter weicht in seiner Einschätzung also nur selten von der seines Vorgängers ab, denn wer die weitere Unterbringung empfiehlt, ist auf der sicheren Seite. Dagegen bringt ein falsch negatives Gutachten den Sachverständigen nicht nur in die Medien, sondern unter Umständen auch selbst vor Gericht.4

Im Ergebnis führt dies in einen Teufelskreis, wie ihn Norbert Nedopil, Leiter der Forensischen Psychiatrie am Klinikum Innenstadt der Universität München zusammenfasst:

Die Menschen, die wegen schwerer Delikte im Gefängnis sitzen, haben faktisch keinen Rechtsschutz mehr. Die Haftanstalt will den Vollzug nicht lockern, weil sie bei einem denkbaren Zwischenfall nicht in die Schlagzeilen geraten will. Ohne Lockerung aber sind längerfristige Prognosen nicht möglich.

Erschwerend komme die wachsende Anzahl der Fälle hinzu, die Zahl der Gutachten habe sich seit 1990 mehr als verzehnfacht. Dadurch müssten die Gutachten auch von weniger erfahrenen Sachverständigen erstattet werden, die jedoch im Zweifelsfall zu eher ungünstigen Prognosen neigen würden. Bei der Schuld entscheide man im Zweifel noch für den Angeklagten, bei der Prognose sei es mittlerweile genau umgekehrt, hat Nedopil beobachtet: „Wir haben uns vom Schuldstrafrecht hin zu einem Präventionsstrafrecht bewegt.“

 

  1. Dieser Artikel entstand auf Grundlage eines Artikels von Magnus Heier in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 02.01.2011: Zwischen Wahrheit und Kaffeesatz []
  2. Zu Mindestanforderungen für Prognosegutachten: Boetticher/Kröber/Müller-Isberner/Böhm/Müller-Metz/Wolf, in: NStZ 2006, 537 ff. und ferner BVerfGE 109, 133 []
  3. Michael Alex: Nachträgliche Sicherungsverwahrung – Ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel (Diss. Bochum, 2010). []
  4. Verurteilung zweier Brandenburger Klinikärzte wegen fahrlässiger Tötung, vgl. BGHSt 49, 1 und darauffolgend BGH, Beschl. v. 07.03.2006 – 5 StR 547/05. []

3 Kommentare zu “Zwischen Kaffeesatz und Wahrheit

  1. Oft wird von Gutachten nur eines gelesen: das Ergebnis der Begutachtung, was auch viele Gutachter gemerkt haben dürften, was sich dann auf die Qualität auswirkt. Oft sind Gutachten gekauft. Ein gewisser Grät Protzl ( so hieß er glaube ich ) spielte in Tschadraß jahrelang Gutachter ( vor Gericht ), ohne dass er als Serienbetrüger identifiziert wurde. Last not least: wenn man in drei Stunden 5 Gutachten anfertigt bringt das mehr ein als eines in der gleichen Zeit.

    Immer gut ist, die Verantwortung für eine Entscheidung zu delegieren: auf den Gutachter ( oder eine Kommission…).

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