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Der Bedeutung der Sache angemessen

Landauf, landab ächtzen die Staatsanwaltschaften unter Arbeitsüberlastung – zumindest ist das der einhellige Tenor und immer wieder zu hören. Nicht so wohl bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart, denn dort haben die Beamten Zeit, aus einer vermeintlichen Sachbeschädigung im Wert von ca. 36 Euro eine „richtig große Sache“ zu machen. Gestern hatte bereits der JURION Strafrecht Blog über diesen Fall berichtet, ebenso die Kreiszeitung in Backnang/Sulzbach.

I. Sachverhalt
Das Unheil nahm am 10. Mai des Jahres 2011 gegen 16 Uhr seinen Lauf. Ein Mann wollte mit seinem Auto vom Grundstück fahren, während die Ausfahrt jedoch von einigen Schulranzen blockiert war, die da versteut auf dem Asphalt herumlagen. Die gehörten ein paar Kindern, die dort auf den Schulbus warteten. Der Fahrer machte durch Hupen auf sich aufmerksam und die Schüler räumten ihren Kram weg. Fall zu Ende? Leider nein.

Denn ein Ranzen blieb leider liegen. Dessen Besitzer, der kleine Edgar, war noch mal fix zum Bäcker gelaufen. Der Fahrer meinte, nun losfahren können, fuhr an – und hörte es nur noch unter seinem Reifen knirschen. Die Mutter des Edgar stattete dem Fahrer später einen Besuch ab, doch dieser zeigte weder Einsicht, noch Reue. Er habe gedacht, alle Schulranzen seien aus dem Weg geräumt und somit für ihn freie Fahrt. Die Mutter gab sich jedoch nicht so einfach mit der Antwort zufrieden und erstattete bei der Polizeidienststelle Strafanzeige gegen den rücksichtslosen Verkehrsrowdy.

II. Rechtliche Würdigung
Infrage kommt eine Sachbeschädigung, die wohl nur fahrlässig begangen wurde. Und das ist bei einer Sachbeschädigung nicht strafbar. Der Zivilrechtsweg bleibt davon unberührt.

Mit was sich die Amtsgerichte in Deutschland so beschäftigen müssen // Foto: Jan von Bröckel / pixelio.de

III. Verfahrensgang
Also schickte die Staatsanwaltschaft einen solchen Einstellungsbescheid? Nein, das wäre viel zu einfach!

1. Strafbefehl
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart beantragte beim Strafrichter am Amtsgericht Backnang einen Strafbefehl, weil der angeschuldigte Fahrer sicherlich doch vorsätzlich gehandelt habe.
Strafe: 20 Tagessätze zu je 30 Euro.

Zum Glück gibt es noch einige Strafrichter, die nicht alles blind unterschreiben, was sie von der Staatsanwaltschaft vorgelegt bekommen. So auch der hier zuständige Richter Thomas Hillenbrand – der Vorsatz erschließe sich ihm nicht. Kein Strafbefehl. Verfahren beendet?

2. Sofortige Beschwerde
Nein. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart legte sofortige Beschwerde ein, die Betrachtungsweise des Richters sei „lebensfremd“. Nun beschäftigten sich drei Berufsrichter des Landgerichts Stuttgart mit der Beschwerde des Staatsanwalts – und wiesen diese als unbegründet zurück. Verfahren nun beendet?

3. Hauptverhandlung
Keineswegs. Die Staatsanwaltschaft beantragte, drei 12-jährige Klassenkameraden als Zeugen anzuhören. Der Richter wird vor Begeisterung in die Tischkante gebissen haben! Und so kam es zur Hauptverhandlung, die von einer ganzen Schulklasse besucht wurde und demnach vor „ausverkauftem Haus“ stattfand.

„Der Saal ist voll besetzt – der Bedeutung der Sache angemessen“, würdigte der Richter. Die Verhandlung ist eröffnet. Zunächst musste jedoch der Wert der beschädigten Sache korrigiert werden. Der Schulranzen (Wert: ca. 90 Euro) war nämlich gar nicht zerstört, sondern allenfalls beschädigt. Eine Wäsche und einen neuen Reißverschluss später war dieser wieder wie neu – zwei neuer Schulbücher bedurfte es auch. Schadenssumme: 36 Euro.

Die drei Zeugen wurden gehört und deren Aussagen waren erwartungsgemäß wenig ergiebig. Es waren eben keine Sachverständigen, sondern Schüler, die das Geschehen bestenfalls aus dem Augenwinkel mitbekommen haben.

Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft beantragte dennoch unbeirrt die Verurteilung des Angeklagten und stellte heraus, dass seine Tat „nicht nur moralisch verwerfliche Züge“ aufweise, sondern auch „strafrechtlich“ verurteilenswert sei. Strafantrag (nun verdreifacht): 30 Tagessätze zu je 60 Euro. Da braucht man als Verfahrensbeteiligter starke Nerven!

Der Richter zeigte sich besorgt um die Außenwirkung eines solchen Verfahrens: Was, wenn ein Artikel über diese Verhandlung auf dem „Schreibtisch des Finanzministers“ landet? Wenn der erfährt, „mit was wir uns beschäftigen“, wird er bestimmt ein „Stellenstreichungsprogramm einleiten“. Das Verhalten des Angeklagten sei ihm zwar „nicht ganz verständlich“ – hätte der nicht einfach die 36 Euro rüberschieben können? Oder gleich mehr Vorsicht walten lassen? Aber Vorsatz? Nicht nachweisbar. Freispruch.

4. Ausgang ungewiss
Aber nun ist das Verfahren doch sicherlich endlich beendet, oder? Nunja, raunt der Richter: „Die Entscheidung der Neckarstraße in Stuttgart bleibt abzuwarten“ – schließlich könne die dort ansässige Staatsanwaltschaft noch in Berufung gehen. Und dann befasst sich noch ein fünfter Richter mit dem „Schulranzenmord“. Und fünf Richter, sagt Hillenbrand, beackern auch gerade am Oberlandesgericht München den NSU-Prozess.

Fazit: Hallo, Herr Finanzminister! Hier sucht eine Behörde einen neuen Behördenleiter …