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Härtere Strafen für sexuelle Übergriffe?

Die Strafrechtsprofessorinnen Elisa Hoven (Leipzig) und Frauke Rostalski (Köln) forderten in der FAZ vom 28.12.2023 unter Bezugnahme auf das Urteil des Landgerichts Hamburg zur sogenannten „Stadtpark-Vergewaltigung“ härtere Strafen für sexuelle Übergriffe. Zwar könne man zu dieser Entscheidung im Einzelnen nichts sagen, da man die Urteilsgründe nicht kenne, aber

Die Gerichte müssen ihre Praxis der Strafzumessung dringend überdenken – vor allem bei Sexualdelikten. Auf ein gravierendes Fehlverhalten des Täters muss eine angemessene Reaktion folgen.

Diese These vertrat Frau Prof. Elisa Hoven auch im Sat.1 Frühstücksfernsehen:

https://www.youtube.com/watch?v=Jg9rgIu3sXwHärtere Strafen für Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe schon vor dem Frühstück

Bestandsaufnahme

In einer bundesweiten Studie legten die Professorinnen Richtern und Laien verschiedene Fallvi­gnetten vor, die für diese fiktiven Sachverhalte Strafen festlegen sollten. Das (wenig überraschende) Ergebnis: Die Laien hätten in fast allen Fällen signifikant härter geurteilt. Besonders deutlich sei der Unterschied dabei im Bereich der Sexualdelikte ausgefallen: Während die befragten Richterinnen und Richter für einen Fall der Vergewaltigung drei Jahre und zwei Monate verhängten, legten die Laien im Schnitt eine Strafe von sechs Jahren und einem Monat fest. Die Schlussfolgerung: Weichen die Strafvorstellungen von Bevölkerung und Gerichten zu weit voneinander ab, könne dies zu einem Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz als verlässliche Instanz sozialer Kontrolle gegenüber Normverstößen führen.

Um ihre Schlussfolgerung zu untermauern, analysierten die Professorinnen zusätzlich die Kommentare unter Medienberichten zu Strafurteilen und stellten dabei fest, dass das Unverständnis über ein als zu milde wahrgenommenes Urteil schnell in grundsätzliche Kritik an Justiz und Rechtsstaat übergehe.

Schließlich habe Elisa Hoven 86 amts- und landgerichtliche Urteile aus den Jahren 2016 bis 2020 analysiert, die sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung nach dem Erwachsenenstrafrecht zum Gegenstand hatten. Der Befund: Bei sexuellen Übergriffen mit Gewalt habe die durchschnittliche Strafe bei einem Jahr und elf Monaten gelegen, bei Vergewaltigungen mit Gewaltanwendung bei zwei Jahren und zehn Monaten. Alle Strafen seien im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens verhängt worden. Und in über der Hälfte der Verfahren sei eine Strafe verhängt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden sei.

Dieses „Maß an Milde“, das aus den Verurteilungen spreche, sei aus Sicht der Autorinnen nicht tragbar. Es sei daher ein „grundlegendes Umdenken bei der Bestrafung sexueller Übergriffe“ erforderlich. Der Artikel endet mit einer aus meiner Sicht mehr als gewagten These: Staatsanwälte und Richter, gemeint sind sicherlich sowohl weibliche als auch männliche Berufsangehörige) würden sich meist an dem orientieren, was am Gericht „üblich“ sei. Und dabei setze sich

bei der Ahndung sexueller Übergriffe eine Tradition fort, die ihren Ursprung in früheren Zeiten nimmt, in denen wenig Sensibilität für die Folgen sexualisierter Gewalt bestand.

Oder anders: Richterinnen und Richter urteilen so lasch, weil ihnen das Leid der Opfer egal sei, was dem Volk nicht mehr zu vermitteln sei, denn diese forderten unisono härtere Strafen.

Härtere Strafen für Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe

Reaktionen

Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Thomas Fischer stellte in der LTO die wissenschaftliche Grundlage der Feststellungen infrage, die Professorin Tatjana Hörnle sah bei SPIEGEL Online die Zurückhaltung deutscher Gerichte bei der Strafzumessung (völlig zurecht) eher als eine Errungenschaft an.

Aus meiner Erfahrung mit weit mehr als 200 Verfahren in Sexualstrafsachen ist eine andere: Das Leid der Opfer ist die ganz bestimmende Strafzumessungserwägung und ist den Richterinnen und Richtern keineswegs egal. Dies geht mitunter sogar so weit, dass sie einem möglichen Opfer alles glauben wollen, egal wie fernliegend die Behauptung ist und wie oft die Zeugin oder der Zeuge an anderer Stelle schon die Unwahrheit gesagt hat. Kommt es dann zu so milden Urteilen, wie von den Autorinnen beschrieben, liegt das lediglich daran, dass das Gericht unbedingt verurteilen wollte, obwohl eine tatsächlich sachliche Basis dafür fehlte. Frei nach dem Motto: Wir können ihm die Tat zwar nicht zweifelsfrei nachweisen, aber freisprechen wollen wir auch nicht, also gibt es wenigstens eine Bewährungsstrafe.

Härtere Strafen im Namen des Volkes?

Ich weiß nicht, ob es vielleicht zu naheliegend ist oder warum niemand der Professorinnen und Professoren diesen wichtigen Punkt erwähnte: Der Vermittelbarkeit von Strafen in der breiten Öffentlichkeit wird doch gerade durch die Einbindung von Schöffen in die Entscheidungen der Gerichte Rechnung getragen. Sie repräsentieren das Volk, in dessen Namen geurteilt wird. Schöffen entscheiden nicht nur über die Schuld-, sondern auch über Straffrage (mit) und somit auch über härtere Strafen für sexuelle Übergriffe.

Am Schöffengericht – da dürfte die Mehrheit dieser Fälle spielen – haben sie sogar doppeltes Stimmgewicht, denn das Gericht ist lediglich mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen besetzt. Das „Volk“ könnte den Berufsrichter also überstimmen, auch in der Frage, was für eine Tat „angemessen“ ist und was nicht. Die Schlussfolgerung der beiden Autorinnen, das Strafmaß im unteren Drittel sei überholten Vorstellungen der Richterinnen und Richter geschuldet, greift deshalb viel zu kurz. Dass die Urteile der Öffentlichkeit nicht mehr vermittelbar seien, liegt sogar völlig daneben, denn zwei Vertreter:innen der Öffentlichkeit wirken an der Strafzumessung mit. Wenn Schöffen also im Schnitt eine Strafe von sechs Jahren und einem Monat fordern würden, die Berufsrichter dagegen nur drei Jahre und zwei Monate, müsste man sich irgendwo in der Mitte verständigen. Aber vielleicht gibt es solche Forderungen eben nur bei der Befragung auf dem Supermarktparkplatz oder am Stammtisch, aber nicht, wenn man die individuellen Schicksale der Prozessbeteiligten im Gerichtssaal verfolgt hat – denn dann stellt sich einiges häufig ganz anders dar als in abstrakten Fallvi­gnetten.

Härtere Strafen können jedenfalls nicht das Allheilmittel sein.


Princess Charming: Sexueller Übergriff bei Datingshow?

Das RTL-Format „Princess Charming“ gilt als das Vorzeigeprojekt des Senders. Die lesbische Datingshow, in der 20 Frauen um das Herz der „Princess“ kämpfen, wurde 2021 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Ende November veröffentlichte eine Teilnehmerin an dem Format auf ihrem Instagram-Kanal dann ein Video, in dem sie eine andere Kandidatin eines sexuellen Übergriffs während der Dreharbeiten beschuldigte.

„Nein, ich möchte dich nicht küssen.“

In dem Video berichtet sie, dass sich eine andere Kandidatin nachts zu ihr ins Bett gelegt habe: „Ich war noch ein bisschen im Halbschlaf und bin eben davon aufgewacht, dass sie da lag.“ Die andere Kandidatin habe über ihre Gefühle und „Wünsche in diesem Moment“ gesprochen – und schließlich klare Grenzen überschritten: „Sie hat versucht mich zu küssen. Ich habe daraufhin gesagt: Nein, ich möchte dich nicht küssen.“ Daraufhin habe sie sich „auf mich draufgelegt und meine Arme über meinem Kopf festgehalten. Und abermals versucht, mich zu küssen. Ich habe mich nicht bewegt.“ Am nächsten Tag habe sie erfahren, dass die Kandidatin „untenherum nackt“ war, also keine Unterhose getragen habe.

„Es stimmt und es ist passiert.“

Die Reaktion der vermeintlichen Täterin ließ nicht lange auf sich warten. Sexueller Konsens ist erstaunlicherweise ein Kernthema der bekennenden Feministin, zu dem sie sich immer wieder öffentlich äußerte. Sie sagt, ihr eigenes Verhalten sei „mit nichts zu rechtfertigen“, sie spricht von „Schuld“ und ermahnt schließlich ihre Follower, sie sollten nicht von bloßen „Vorwürfen“ sprechen. Denn: Was die Kandidatin sagt, stimme, „und es ist passiert“.

Heute berichtet dann DER SPIEGEL ausführlich unter der Überschrift „Was geschah wirklich bei »Princess Charming«?“ über die Ereignisse. Denn die Besonderheit hier ist, es gibt Videomaterial von dem angeblichen Übergriff. Wie bei sämtlichen Reality-Formaten laufen die Kameras auch bei ausgeschaltetem oder gedimmtem Licht stets mit. Und diese Aufnahmen zeigen ein ganz anderes Bild der Situation.

„Ein Übergriff bleibt ein Übergriff“

In dem Videomaterial sieht man einiges von dem Rahmengeschehen, welches die Kandidatin beschrieben hat. Dennoch zeigt es für Außenstehende eine grundlegend andere Situation. Im Video liegen beide Frauen eng beieinander, immer wieder berühren sie sich gegenseitig, ihre Wangen, ihre Arme und Hände, sie flüstern, umarmen sich, kuscheln. Abwehrversuche sind an keiner Stelle zu sehen, auch das Festhalten der Hände, das die Kandidatin in ihrem Instagram-Video geschildert hat, ist so nicht zu erkennen. Als sich die Kandidatin auf sie rollt, verschränken die beiden Kandidatinnen ihre Finger, streicheln über ihre Hände, blicken sich lange in die Augen. Alles sieht für einen objektiven Dritten völlig einvernehmlich aus.

Von diesen Fakten lässt sich die beschuldigende Kandidatin jedoch nicht beeinflussen: „Ein Übergriff bleibt ein Übergriff“, denn „eine aktivistische Perspektive wäre, ausdrücklichen verbalen Consent vorauszusetzen.“ Oder mit anderen Worten: „Ich wollte es nicht. Deswegen war es ein Übergriff.“

Die juristische Perspektive

Im Strafrecht kommt es auf eine „aktivistische Perspektive“ jedoch nicht an. Es geht um einen objektiven Blickwinkel auf die Situation und eine Analyse dessen, was beide Partner in dieser Situation zum Ausdruck bringen und mutmaßlich gewollt haben. Und das ist vorliegend relativ eindeutig: man hört kein „Nein“, man sieht keinen irgendwie geäußerten entgegenstehenden Willen. Wo sonst stets „Aussage gegen Aussage“ steht, gibt es hier einen objektiven Blick auf die Situation und das ist die große Besonderheit.

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Ist auch Princess Charming ein Teil der #metoo-Problematik: Gab es einen sexuellen Übergriff vor laufender Kamera?

Bei dem Großteil aller vermeintlichen sexuellen Übergriffe mangelt es gerade an dieser Objektivität und dieser Fall steht gerade deshalb für etwas, was in der Praxis häufig anzutreffen ist. Die Meinungen über das, was in einer konkreten Situation gewollt war, geht diametral auseinander. Dennoch ist die Bereitschaft zur Verurteilung, der medialen und der strafrechtlichen, ungleich hoch. Der Trend geht ganz klar dahin, dem möglichen Opfer alles zu glauben! Hier hatten wir sogar eine vermeintliche Täterin, die sofort ein Geständnis abgelegt hat, denn sie unterstützte die Betroffenenperspektive, auch wenn sie wusste, dass es eigentlich anders war.

Was wäre, wenn dieser Fall vor Gericht gelandet wäre und es keine Aufnahme der Situation gegeben hätte? Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit wäre die Beschuldigte verurteilt worden.

Ist das gerecht?


Der Schutz der Psyche durch den Tatbestand der Körperverletzung

Dass bereits der infolge einer Ohrfeige oder eines leichten Trittes kurzzeitig erlittene Schmerz den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllen kann, wird nicht in Zweifel gezogen. Die körperliche Integrität genießt oberhalb der niedrigen Bagatellgrenze einen umfangreichen Schutz. Weniger eindeutig sieht es hingegen bei der strafrechtlichen Einordnung von ausschließlich psychischen Einwirkungen des Täters auf sein Opfer – etwa durch Mobbing oder andere seelische Verletzungshandlungen – aus, die oftmals subtiler und daher für Außenstehende schwieriger zu erkennen, jedoch für den Verletzten mitunter nicht weniger schwerwiegend sind. Die §§ 185 ff. StGB, welche ausschließlich Ehrverletzungen unter Strafe stellen, vermitteln den Betroffenen psychischer Einwirkungen keinen ausreichenden Schutz, sofern hierdurch (zugleich) deren seelisches und körperliches Wohlbefinden berührt ist. Gleichwohl kann die Psyche angesichts der Alltäglichkeit der sich aus zwischenmenschlicher Interaktion ergebenen Konfliktsituationen keinen absoluten strafrechtlichen Schutz erfahren. Hat ein Verhalten eine Verletzung der Psyche oder eine Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens herbeigeführt, fällt die Differenzierung zwischen sozial unerwünschtem, aber straflosem Fehlverhalten einerseits und nach §§ 223 ff. StGB strafbarem Unrecht andererseits mitunter schwer.

Im Folgenden wird daher überblicksartig aufgezeigt, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die psychische Integrität den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen. Darüber hinaus wird die Einordnung psychischer Einwirkungen als verfolgbare Straftat für die verletzte Person am Beispiel des Hervorrufens einer Posttraumatischen Verbitterungsstörung beleuchtet.

Schutz der Psyche durch eine Körperverletzung

Die Vielseitigkeit psychischer Einwirkungen sowie deren psychische und körperliche Folgen

Psychische oder seelische Einwirkungen umfassen Äußerungen, Handlungen sowie Haltungen, die einen Menschen herabsetzen, demütigen, kränken, ihn unterdrücken und ihm das Gefühl von eigener Wertlosigkeit vermitteln. Die Folgen für die Betroffenen können von negativen Emotionen, wie Angst und Verzweiflung oder Gefühlsausbrüche (z.B. Weinkrämpfe und Erregungen), körperlichen Auswirkungen (z.B. Angstschweiß, Schlafstörungen und Zitteranfälle) bis hin zu pathologischen Zuständen, etwa in Form von Depressionen und damit einhergehender ausgeprägten physischen Symptomen reichen.

Zur psychischen Gewalt gehören Mobbing am Arbeitsplatz ebenso wie psychische Übergriffe von Familienangehörigen, die sich etwa durch wiederholtes Anschreien, Druckausübung, bewusste Kränkung und emotionale Vernachlässigung äußern können. Insbesondere wenn schwerwiegende Angriffe über einen langen Zeitraum stattfinden, können sich diese derart verdichten, dass die hieraus resultierenden psychischen Beeinträchtigungen und Verletzungen, wie tiefe Trauer, Angstzustände oder Hoffnungslosigkeit, zu einer psychischen Erkrankung führen. Diese kann mit weiteren erheblichen körperlichen sowie seelischen Auswirkungen einhergehen.

Psychische Einwirkungen am Beispiel der Posttraumatischen Verbitterungsstörung

Durch langanhaltende Diffamierung, Beleidigungen sowie sonstigen Kränkungen und Demütigungen kann der Betroffene neben (schweren) Depressionen insbesondere auch eine Posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED) entwickeln, die nach der ICD-10-Klassifikation als psychische Krankheit eingeordnet wird. Eine PTED wird bei Patienten festgestellt, die unter einer schweren beeinträchtigenden und langanhaltenden sowie schwer bethandelbaren emotionalen Störung leiden. Diese emotionale Verbitterung ist eine Reaktion auf Ungerechtigkeit, Vertrauensbruch, Kränkung und Herabwürdigung und ist durch eine Mischung aus Aggression und Resignation gekennzeichnet. Begleitet werden diese Empfindungen von somatoformen Störungen, Antriebsstörungen, Initiativlosigkeit sowie sozialem Rückzug.

Dabei leiden die Betroffenen im Einzelnen etwa unter einer dauerhaften, ängstlich bedrückten, freudlosen und leicht reizbaren Grundstimmung mit aggressiv-depressiven Komponenten, wobei sie sich als hilfloses Opfer erleben, sich selbst Vorwürfe machen und unter einer Reihe unspezifischer, somatischer Beschwerden leiden. Dies kann in einem Lebensüberdruss mit Suizidgedanken gipfeln. Die Dauer der Beeinträchtigungen nimmt in der Regel mehr als sechs Monate in Anspruch und belastet den Betroffenen damit über einen langen Zeitraum stark. Betroffene Personen berichten unter anderem von geringem Antrieb, massiver Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen, Verdauungsproblemen, Kopfschmerzen, Verspannungen, Weinkrämpfen, Gewichtsabnhame, Unvermögen, mit Routineanforderungen des alltäglichen Lebens fertig zu werden, starken Ängsten bis hin zu Herzrasen und Schwindelgefühlen.

Der Körperverletzungstatbestand bei rein psychischen Einwirkungen

Mit Blick auf die zuvor dargestellte Bandbreite sowie Bedeutung psychischer Beeinträchtigungen – entweder durch die Tathandlung selbst oder als Erfolg der Tathandlung – fragt sich, wie der strafrechtliche Schutz des Verletzten in diesen Fällen konkret ausgestaltet ist. Jenseits der §§ 185 ff. StGB können psychische Einwirkungen und deren Folgen insbesondere als Körperverletzung qualifiziert werden. Nach § 223 Abs. 1 StGB macht sich bekanntermaßen strafbar, wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt.

Angesichts des hohen Stellenwerts des von §§ 223 ff. StGB geschützten Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit, das durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch verfassungsrechtlichen Schutz genießt, werden die Tatbestandsvoraussetzungen der einfachen Körperverletzung von der Rechtsprechung eher weit ausgelegt: So kann etwa das Abschneiden von Haaren eine körperliche Misshandlung darstellen und das Herbeiführen von Volltrunkenheit als Gesundheitsschädigung qualifiziert werden. Einer dauerhaften oder besonders tiefgreifenden Funktionseinschränkung bedarf es somit bei rein körperlichen Eingriffen nicht.

Dieser Maßstab lässt sich indes nicht ohne Weiteres auf ausschließlich psychische Beeinträchtigung übertragen. Bei der Prüfung des objektiven Tatbestandes der Körperverletzung durch rein psychische Einwirkungen ist insbesondere sauber zwischen den folgenden Fragestellungen zu differenzieren: Wann stellt eine seelische Beeinträchtigung zugleich eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens dar? Und sind rein psychische Erkrankungen als Gesundheitsschädigungen zu qualifizieren?

Dass das Strafgesetzbuch seelische Krankheiten kennt, wird bereits anhand von § 20 StGB deutlich, der ausdrücklich von einer „krankhaften seelischen Störung“ spricht, worunter alle psychischen Abweichungen von Krankheitswerten fallen, für die eine organische Ursache verantwortlich gemacht wird. Der Gesetzgeber hat die Relevanz für die Betroffnen seelischer Gewalt bereits anerkannt und das Eintreten bzw. die Gefahr psychischer Folgen als strafrechtlich verfolgbares Unrecht an anderer Stelle bereits ausdrücklich geregelt. So stellt § 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB die Misshandlung von Schutzbefohlenen insbesondere für den Fall unter Strafe, in dem der Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat in die bloße Gefahr einer erheblichen Schädigung der seelischen Entwicklung bringt. Eine Strafbarkeit wegen schwerer Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB kommt in Betracht, sofern die Körperverletzung zur Folge hat, dass die verletzte Person in geistige Krankheit verfällt. Zudem wurde 2007 mit § 238 StGB der Tatbestand des Nachstellens eingeführt. Hiernach ist etwa das wiederholte unerwünschte Kontaktieren sowie Bedrohen des Opfers strafbar, sofern dieses Tatverhalten geeignet ist, dessen Lebensgestaltung nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen.

Körperliche Misshandlung

Unter einer körperlichen Misshandlung wird jede üble unangemessene Behandlung verstanden, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit des Verletzten nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Danach bedarf es jedenfalls auch einer Veränderung der Körpersubstanz. Einwirkungen, die ausschließlich das seelische Wohlbefinden berühren, sollen folglich nicht erfasst sein. Vielmehr soll ein objektivierbarer pathologischer Zustand infolge psychischer Belastungen zur Annahme strafrechtsrelevanten Verhaltens erforderlich sein. Insofern bedarf es für die Verfolgung primär psychischer Leiden als Körperverletzung aus Sicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung einer körperlichen Verursachung und einer körperbezogenen Wirkung eines Befundes.

So soll etwa das Hervorrufen von Angst- und Panikgefühlen beim Opfer nach der Rechtsprechung des BGH nicht ausreichen, um eine körperliche Misshandlung anzunhemen. Bedrohungs- und Einschüchterungshandlungen des Täters dürfen sich für die Bejahung einer körperlichen Misshandlung nicht nur auf das seelische Gleichgewicht des Betroffenen auswirken, sondern müssen jedenfalls auch die körperliche Verfassung betreffen.

Nach diesem Verständnis wäre etwa Mobbing nur für die Fälle als strafbare Körperverletzung zu qualifizieren, in denen der Betroffene etwa eine durch Stress verursachte Reizung der Nervensystems erlitten oder sich eine sonstige körperliche Manifestationen des psychischen Leids gezeigt hat. Demgegenüber wird in der Rechtsprechung in Einzelfällen aber teilweise auch vertreten, dass bereits der Aufbau einer psychisch zermürbenden Atmosphäre der Feindseligkeit, der die betroffene Person nicht ausweichen kann, als Tathandlung in Betracht kommt.

In einem Fall, in dem der BGH die psychischen Folgen des Anspuckens rechtlich zu beurteilen hatte, stellte er differenzierend heraus, dass die bloße Erregung von Ekelgefühlen für die Annahme einer körperlichen Misshandlung nicht ausreiche, wohingegen das Hervorrufen von Brechreiz geeignet sei, das Tatbestandsmerkmal zu erfüllen. Bei der sich zynisch anmutenden Frage, wann konkret die Empfindung von Ekel in die Schwelle des § 223 Abs. 1 StGB erreichenden Brechreiz mündet, wird offenbar, wie es um das Kriterium des objektivierbaren pathologischen Zustandes tatsächlich bestellt ist. Die Grenzen sind keinesfalls so eindeutig, wie es die Rechtsprechung und weite Teile der Literatur darzustellen versuchen.

Die Voraussetzungen einer strafbaren psychischen Körperverletzung unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Misshandlung bedürfen somit selbst mit Blick auf den von der Rechtsprechung geforderten objektivierbaren pathologischen Zustand stets der genauen Prüfung im konkreten Einzelfall.

Der Bundesgerichtshof setzt gemäß der Definition der körperlichen Misshandlung weiter einschränkend voraus, dass es sich bei einer konkreten psychischen Einwirkung auch um eine Beeinträchtigung erheblichen Ausmaßes handeln muss. Diese Voraussetzung einer Bewertung eröffnet nicht nur weite, unspezifizierte Beurteilungsspielräume. Zugleich statuiert die Rechtsprechung hiermit, dass – anders als bei rein körperlichen Übergriffen, bei denen als Taterfolg auch nur vorübergehende und moderate Funktionseinschränkung zur Annahme strafbaren Verhaltens ausreichen und das Vorliegen eines pathologischen Zustandes nur für die Bejahung der Gesundheitsschädigung erforderlich ist – die Versuchung rein psychischer Folgen faktisch einem strengeren Maßstab unterliegen sollen. Bei psychischen Beeinträchtigungen bedarf es nicht nur der Feststellung der Erheblichkeit, sondern diese müssen wie zuvor dargestellt, das Maß eines objektivierbaren pathologischen Zustandes erreichen. Unklar bleibt, in welchen Fällen es der Einschränkung durch das Erfordernis der Erheblichkeit bedarf, wenn bereits ein pathologischer Zustand festgestellt wurde. Es besteht die Gefahr, dass der Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB hierdurch für psychische Einwirkungen ausgehöhlt wird und dogmatisch die Grenze zur schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs.1 Nr. 3 StGB verschwimmt.

Gesundheitsschädigung

In Abgrenzung zur körperlichen Misshandlung sieht der Gesetzeswortlaut bei der Tatbestandsvoraussetzung des Gesundheitsschädigung keine Beschränkung auf die körperliche Gesundheit vor. Konsequenterweise sind daher auch krankhafte Zustände rein psychischer Art erfasst.

Dieser weite Wortlaut sei aber infolge systematischer Auslegung zu begrenzen. In dem Zusammenhang wird angeführt, die vom Gesetzgeber für § 223 StGB bewusst gewählte Überschrift „Körperverletzung“ lege nahe, dass dies abschließend gemeint sei. Das vermag indes nicht zu überzeugen, da das Strafgesetzbuch weitere Tatbestände enthält, deren Überschriften das tatbestandlich beschriebene Verhalten nur zum Teil erfassen. Zudem trägt der 17. Abschnitt zwar die Überschrift „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“, gleichwohl nimmt er hierin enthaltene § 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB ausdrücklich Bezug auf die Schädigung der „seelischen Entwicklung“ und § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB auf „geistige Krankheit“. Die systematische Herangehensweise spricht vielmehr für die Qualifizierung krankhafter Zustände rein psychischer Art als Gesundheitsschädigung. Denn wenn in § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Verursachung ausschließlich psychischer Erkrankungen in der gesetzlichen Überschrift als schwere Körperverletzung anerkannt werden, liegt es nahe, sie im Wege eines Erst-recht-Schlusses auch als einfache Körperverletzung in Form der Gesundheitsschädigung anzusehen.

Hiermit ist auch die gängige Definition der Gesundheitsschädigung in Einklang zu bringen, worunter das Hervorrufen oder Steigern eines – wenn auch nur vorübergehenden – pathologischen Zustandes verstanden wird. Ein pathologischer Zustand muss nicht zwingend somatisch auswirken, etwa wenn der Täter dem Opfer eine psychische Erkrankung zufügt, mit der keine körperlichen Symptome einhergehen.

Dementgegen sieht die Rechtsprechung jedoch einschränkend vor, dass auch im Rahmen der Prüfung der Gesundheitsschädigung infolge psychischer Beeinträchtigungen der Körper in einen pathologischen, somatisch objektivierbaren Zustand versetzen müsse. Hierfür sollen bereits Zittern, Schlafstörungen und Angstzustände ausreichen, soweit sie nicht nur unerheblichen Ausmaßes sind. Insofern besteht nach der herrschenden Meinung ein inhaltlicher Gleichlauf mit der Tatbestandsvoraussetzung der körperlichen Misshandlung, sodass eine Differenzierung der beiden Merkmale bei rein psychischen Einwirkungen faktisch nicht erfolgt.

Zur Beantwortung der Frage, ob psychische Beeinträchtigungen das Maß einer Gesundheitsschädigung erreichen, kommt es dabei richtigerweise nicht darauf an, ob der Verletzte zuvor (vollständig) psychisch gesund war oder bereits eine psychische oder körperliche Vorbelastung bestand. Denn auch eine pathologische Steigerung einer vorhandenen Erkrankung ist als Gesundheitsschädigung anerkannt. Konsequenterweise darf es sich daher ebenso wenig auswirken, wenn der Verletzte ungeachtet der erlittenen psychischen Einwirkung bereits an sich eine verletzliche Persönlichkeitskultur aufweist. Dabei muss das Verhalten des Täters selbstverständlich kausal für die vom Opfer erlittenen psychischen sowie hierauf beruhenden körperlichen Auswirkungen sein, was hingehen regelmäßig auch bei bereits bestehenden psychischen Störungen der Fall ist, wenn der gegenwärtige Zustand kein Rezidiv einer zuvor bestehenden psychischen Erkrankung ist.

Die Bedeutung der Einordnung psychischer Körperverletzung als Straftat

Dass die psychische Körperverletzung nach herrschender Ansicht nur bei der Feststellung somatisch objektivierbaren Zuständen vorliegen soll, muss – insofern folgerichtig – dazu führen, dass der Täter straflos bliebe, der dem Opfer eine psychische Erkrankung zufügt, mit der keine körperlichen Symptome einhergehen.

Für den Verletzten kann indes bereits die Erkenntnis, dass er nicht bloß Opfer eines persönlichen psychischen Angriffs durch einen Angehörigen, Arbeitskollegen oder Bekannten geworden ist, sondern es sich hierbei auch um strafbares Unrecht handelt, helfen, sich hiergegen effektiv unter Bemühung der Strafverfolgungsbehörden zu Wehr zu setzten. Die konsequente Anerkennung psychischer Beeinträchtigungen als Körperverletzung stärkt auch das gesellschaftliche Bewusstsein um die Bedeutung der psychischen Gesundheit. Der Anwendungsbereich der Körperverletzungsdelikte umfasst demnach richtigerweise neben dem Schutz der körperlichen Integrität auch einen konsequenten Schutz der Psyche.

Der dadurch teilweise befürchteten Ausdehnung des Körperverletzungstatbestandes und damit einhergehenden weiten Beurteilungsspielräumen, ist entgegenzuhalten, dass insbesondere das körperliche Empfinden von Schmerz im Nachhinein ebenfalls schwer nachzuvollziehen ist und nicht zwingend objektivierbar gemacht werden kann. Gleichwohl fordert niemand ernsthaft, dass das Zufügen „bloßer“ Schmerzempfindungen oberhalb der Bagatellgrenze aus dem Tatbestand des § 223 StGB herauszunehmen sei. Schaut man sich dieses Phänomen am Beispiel der Ohrfeige an, so muss man feststellen, dass die Rechtsprechung hierfür „ein – wenn auch nur kurz anhaltendes – Schmerzempfinden“ sowie „leichten Schmerz“ ausreichen lässt. Es wird deutlich, dass hier – wie auch bei den Einwirkungen rein psychischer Art die prozessuale Notwendigkeit einer genauen Sachverhaltsfeststellung im Vordergrund stehen muss, statt eine unzulässige Einengung des Tatbestandes vorzunehmen.

In dem Zusammenhang ist die Heranziehung der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) sinnvoll. Hierbei handelt es sich um ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, das von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben und auch zur Klassifikation psychischer Störungen (fünftes Kapitel der ICD-10) angewandt wird. Bei der Beurteilung, ob eine psychische Beeinträchtigung als Körperverletzung zu qualifizieren ist, erscheint es sinnvoll, sich an die Diagnosekriterien der ICD-10 zu orientieren und diese als objektivierbaren Maßstab heranzuziehen.

Fazit

Hat ein Verhalten bei einem menschlichen Gegenüber eine Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens oder der Psyche herbeigeführt, stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um sozial unerwünschtes aber strafloses Fehlverhalten handelt oder ob dies eine strafbare Körperverletzung darstellt.

Bei rein psychischen Einwirkungen erfolgt faktisch keine Differenzierung zwischen dem Tatbestandsmerkaml der körperlichen Misshandlung und dem der Gesundheitsschädigung, da sich die seelischen Beeinträchtigungen für die Annahme einer Körperverletzung nach dem aktuellen Stand der Rechtsprechung jeweils in einem pathologischen Zustand zeigen müssen. Hierbei sollte sich insbesondere an dem international anerkannten Klassifikationssytem ICD orientiert werden, das für die Stellung von Diagnosen objektivierbare Maßstäbe bereithält. Eine Diagnose nach den ICD-10-Kriterien erleichtert zugleich die prozessuale Sachverhaltsfeststellung.

Es ist daher ratsam, dass die Auswirkungen psychischer Einwirkungen zur Untermauerung einer etwaig zu erstattenden Strafanzeige ärztlich festgestellt und für die Strafverfolgungsbehörden nachvollziehbar dokumentiert werden. Auch eine psychologische Begutachtung der mit der Tat einhergehenden psychischen Folgen kann in dem Zusammenhang sinnvoll sein.


Der nicht unterzeichnete Strafbefehl

Der Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 16.9.2022 – 3 Ns-110 Js 1471/21 betrifft ein praktisch wichtiges Problem, nämlich die fehlende Unterschrift beim Strafbefehl.

Im Fokus der Entscheidung steht die Frage, ob sich der Strafbefehl vor der Unwirksamkeit retten lässt, und zwar in Fällen, in denen aus der Akte ersichtlich ist, „dass dennoch eine der Willensäußerung des Richters entsprechende Entscheidung vorliegt“.

Strafbefehl ohne Unterschrift des Richters: Einspruch Strafbefehl

Das Landgericht Arnsberg verneint dies und zieht zum Vergleich die fehlende Unterzeichnung einer Urteilsurkunde heran. Hier wie dort komme es maßgeblich darauf an, ob „der Richter die Verantwortung für den Inhalt des – gemäß § 408 Abs. 3 StPO nicht von ihm herrührenden – Schriftstücks übernehmen“ wolle. Und dies könne nur durch Unterzeichnung dokumentiert werden. Selbst wenn sich anderswo, beispielsweise unter der Begleitverfügung, ein Namenskürzel dennoch finden lässt, soll dies nach Auffassung des Landgerichts nicht genügen – weder beim Urteil noch beim Strafbefehl.

Der Auffassung ist zuzustimmen. Denn nur so bleibt sichergestellt, dass einheitliche und zugleich rechtssichere Maßstäbe für gerichtliche Entscheidungen im Strafverfahren bestehen. Darüber hinaus geht es, wie sich aus § 408 StPO ergibt, auch beim Strafbefehl um eine gerichtliche Kontrolle. Das gilt umso mehr, als im Strafbefehlswege nicht unerhebliche Rechtsfolgen festgesetzt werden können. Die Unterschrift des Richters oder der Richterin ist dabei letztlich nichts anderes als eine Art notwendiges Kontrollzeichen beziehungsweise ein Beleg dafür, dass ebendiese Kontrolle stattgefunden hat. Auch muss die kritische Frage erlaubt sein: Welchen Eindruck macht es auf Betroffene, wenn man nach Anzeichen für diese gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle suchen muss?

Dennoch – bei aller Freude über die Entscheidung des Landgerichts Arnsberg wird man eines nicht von der Hand weisen können: Die herrschende Meinung sieht es anders. So führt etwa Temming aus, dass die fehlende Unterzeichnung des Strafbefehls „nach hM unschädlich sein“ soll, „wenn sich ein entsprechender Wille des Richters aus den Akten, etwa aus der Begleitverfügung zum Strafbefehl ergibt“. Gerade Verteidigerinnen und Verteidiger sollten sich davon jedoch nicht abschrecken lassen, zumal die meisten Kommentierungen mit dem bloßen Hinweis auskommen, dass die „hM“ es anders sieht.


Die Unschuldsvermutung als Grundpfeiler des Strafrechts

Die Unschuldsvermutung gilt im Strafrecht als Grundprinzip. Das heißt, kein Tatverdächtiger und keine Tatverdächtige muss die eigene Unschuld beweisen. Im Gegenteil: Die Strafverfolger müssen die Schuld, also die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat, nachweisen. Man darf die Unschuldsvermutung mit Fug und Recht als eine der großen Errungenschaften des Rechtsstaats bezeichnen. Dabei prägt sie nicht nur das Strafverfahren, sondern sie vermittelt zugleich ein Menschenbild, das von Freiheit und Selbstbestimmung gekennzeichnet ist. Kurzum, die Unschuldsvermutung hat auch gesamtgesellschaftlich eine besondere Bedeutung.

Unschuldsvermutung als Grundpfeiler des Strafrechts

Das Prinzip, dass jemand als unschuldig gilt, solange seine Schuld nicht bewiesen ist, ist richtig und wichtig. Dennoch wird die Unschuldsvermutung immer wieder ignoriert, etwa in Presseberichten über laufende Strafverfahren. Nicht selten wird sie auch für Rechtfertigungen im politischen Raum missbraucht. Es kommt sogar vor, dass auch Strafverfolger – über die zulässigen Durchbrechungsmöglichkeiten hinaus – an diesem Grundprinzip rühren.

Die Unschuldsvermutung wirkt dadurch zunehmend „abgenutzt“. Auf den Punkt bringt dies der Jurist und Journalist Heribert Prantl. Er schreibt, dass die Unschuldsvermutung „zweckentfremdet wird“ und damit auf einem „Parkplatz der Gerechtigkeit“ landet. Als Beispiel nennt Prantl unter anderem den Fall des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz. In eine ähnliche Richtung zielt eine Äußerung von Thomas Fischer, Rechtsanwalt und Bundesrichter a.D., im Zusammenhang mit der Presseberichterstattung über das Ermittlungsverfahren gegen den Ex-Fußballer Christoph Metzelder: Die Verwendung der Unschuldsvermutung „als Beschwörungsformel, mit der man vorgeblich jede noch so wüste Vorverurteilung wieder ins Stadium objektiver Berichterstattung versetzen kann,“ sei „überaus unehrlich“.

Wir sehen: Die Unschuldsvermutung wird täglich angetastet. Sie wird gehandelt und es wird um sie gefeilscht – fast so, als gäbe es die Unschuld portionsweise im Angebot. Man nimmt dieses Prinzip gern in Anspruch, und ein bisschen unschuldig ist doch auch schon etwas. Dabei ist den handelnden Personen oft nicht bewusst, welchen Bärendienst sie dem Rechtsstaat damit erweisen. Sie nehmen dies aber billigend in Kauf.

Im Bereich der Strafverfolgung geht es bei der Unschuldsvermutung weniger um die Grenzen des guten Geschmacks als vielmehr um Recht und Gesetz. Wenn die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren führt, dann ist das die Erfüllung einer Dienstpflicht. Dazu kann es auch erforderlich sein, das Prinzip der Unschuldsvermutung zu durchbrechen, etwa beim Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Die Strafprozessordnung bietet solche Möglichkeiten. Dabei ist jedoch stets zu bedenken, dass nicht alles, was gesetzlich möglich ist, im Einzelfall auch rechtlich zulässig geschweige denn notwendig ist. Besonders hervorzuheben sind in dieser Hinsicht Festnahme- und Vernehmungssituationen. Wachsamkeit ist aber auch geboten, wenn es um die Pressearbeit der Polizei und der Staatsanwaltschaften geht. Denn gemessen an den Vorgaben des Bundesgerichtshofs (Lesetipp: BGH, NJW 2016, 3670) liegen hier die Hürden für die Annahme eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung hoch. Für die Betroffenen ist damit meist die Gefahr einer Vorverurteilung verbunden.

Festzuhalten bleibt: Die Unschuldsvermutung ist uns lieb und teuer. Sie ist zum Schutze aller da, aber dieser Schutz ist keineswegs immer so robust, wie er sein sollte. Die Unschuldsvermutung ist jedoch nicht verhandelbar. Und das soll auch so bleiben.

(Ein Kommentar von Dr. Lorenz Bode)