Strafakte.de

Entscheiden über Akten, die man nicht gelesen hat

Der Bundesgerichtshof kommt nicht zur Ruhe. Nach dem teils unwürdigen „Besetzungsstreit“ erregt nun der „Zehn-Augen-Streit“ die Gemüter. Auslöser war ein in StV 2013, 395 (Ausgabe 06/2013) erschienener Aufsatz der Richter am 2. Strafsenat Thomas Fischer, Ralf Eschelbach und Christoph Krehl „Das Zehn-Augen-Prinzip  –  Zur revisionsgerichtlichen Beschlusspraxis in Strafsachen“. Darin kritisierten sie die Praxis, dass in den Strafsenaten nicht alle Richter die Akten lesen, sondern sich von einem Kollegen (Berichterstatter) über die entscheidungserheblichen Tatsachen in der Beratung informieren lassen. Lediglich der dem Senat Vorsitzende Richter kennt den kompletten Akteninhalt ebenfalls.

Dies rief offenbar großen Ärger bei dem 5. Strafsenat unter dem Vorsitz von Clemens Basdorf hervor. Und weil Karlsruhe und Leipzig sehr weit entfernt liegen und man sich deshalb nicht zufällig auf dem Flur „über den Weg läuft“, tauscht man sich lieber öffentlich über die (Fach-) Presse aus. Vorgestern erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (auf Seite 14) nunmehr die Ankündigung eines „Gegen“-Aufsatzes von sieben Richtern zur Arbeitsweise am Bundesgerichtshof in Strafsachen: „Unerträglich“ sei die Kritik und darüber hinaus geeignet, „die Reputation des höchsten deutschen Strafgerichts in Frage zu stellen“.

BGH, Bundesgerichtshof, Strafsenate, Strafsachen, Strafakte, Akten, Richter, Fischer, Eschelbach, Basdorf, Zehn-Augen-Prinzip, Vier-Augen-Prinzip, Beschlussverwerfung

Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe // Foto: ComQuat (CC BY-SA 3.0)

Ist dem tatsächlich so? Andrea Groß-Bölting beschäftigt sich im „de legibus“-Blog mit der Frage, ob dieser öffentlicher Diskurs der Strafsenate die Reputation des BGH tatsächlich beschädigt.

Vier-Augen-Prinzip gegen Zehn-Augen-Prinzip

Fest steht, dass dies seit Jahrzehnten so praktiziert wird – nicht nur am Bundesgerichtshof, sondern auch in anderen mit mehreren Berufsrichtern besetzten Strafkammern der unteren Instanzen. Schafft man es, sich dann selbst eine Meinung zu bilden oder folgt man blind der Auffassung des Berichterstatters? Auch andere Kollegen seien von dem „Vier-Augen-Prinzip“ überzeugt, konstantiert man in der FAS. Denn wenn alle fünf Richter eines Senats alles lesen würden, bliebe wohl keine Zeit mehr für die tatsächlich schwierigen Rechtsfragen.

Aber kann das eine Rechtfertigung sein? „Es geht kaum anders“ – Pragmatismus. Begrenzte Ressourcen. Sachzwänge. Tradition. Groß-Bölting im „de legibus“-Blog dazu:

Ich habe es noch nie in einem Gerichtssaal in Deutschland erlebt, dass einer meiner Mandanten mit derartigen Argumenten einer Verurteilung entgangen wäre. Gerade Richter halten ihnen dann gerne vor, dass wirtschaftliche Not, Familientraditionen oder Sachzwänge keine Rechtfertigung dafür sind, die gesetzlichen Spielregeln nicht einzuhalten. Das ist richtig.

Bisherige ständige Beschlusspraxis am Bundesgerichtshof

Auch das Bundesverfassungsgericht scheint diese Praxis nicht zu beanstanden:

Gleichzeitig erfordere die übliche Arbeitsweise der Strafsenate in Revisionssachen – bei der überwiegend nicht schriftlich votiert werde, sondern der Berichterstatter den zu entscheidenden Fall mündlich vortrage -, dass der Vorsitzende die (häufig umfangreichen) Senatshefte selbst lese, um sich dadurch eine eigene Ansicht von dem Verfahren und den anfallenden Rechtsfragen zu bilden und so in der Lage zu sein, den Berichterstatter kritisch zu hinterfragen.

Mit anderen Worten: Die Praxis am Bundesverfassungsgericht unterscheidet sich wohl nicht wesentlich von der am Bundesgerichtshof. Die Richter des 5. Strafsenats wehren sich zudem gegen den – bislang gar nicht erhobenen – Vorwurf, ein Berichterstatter könne einzelne Fälle „in eine bestimmte Richtung drehen“. Das habe man noch nicht erlebt und würde schließlich das Vertrauen auch nachhaltig erschüttern.

Die Diskussion hat also gerade erst begonnen und wird Strafverteidiger, aber sicherlich auch die Öffentlichkeit sicherlich noch einige Zeit beschäftigen. Man darf nämlich nicht vergessen: Die Richter entscheiden über das Leben einzelner Individuen, die (mit oft guten Gründen) die Entscheidung des Instanzgerichts angreifen. Die Strafsenate und die Richter sind dann meist (nach dem Landgericht) in der Revision die zweite und letzte Instanz.

 

Nachtrag vom 19.09.2013: Nach Informationen der „Legal Tribune Online“ soll der Aufsatz der Mitglieder des 5. Strafsenats in der Oktober-Ausgabe der Neuen Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) erscheinen. Wir werden dies ergänzen, sobald der Aufsatz vorliegt.


6 Kommentare zu “Entscheiden über Akten, die man nicht gelesen hat

  1. Man kann auch 150 neue Richter am BGH und 20000 neue Richter in den unteren Ebenen einstellen, damit jeder alles lesen kann.

    Möchte nicht wissen, wie dann die beamtenhassende Volksseele kocht.

    Mit den derzeitigen personellen Vorgaben müssen die Richter die Rechtsschutzgarantie auch in zeitlicher Hinsicht wahren. Alternativ könnte man das Antragsrecht der Verteidiger beschneiden.

    Man glaubt es kaum, aber auch der Tag eines Richters hat nur 24 Stunden.

  2. Ketzerische Frage: Wurde im Studium nicht die Wichtigkeit des Aktenvortrags mit dem Argument begründet, dass eine mündlich erfolgende, geordnete Sachverhaltsdarstellung nebst vertretbarer rechtlicher Lösung für die Beratung in mehrköpfigen Entscheidungsgremien Grundlage sein soll? Vielleicht machen die es beim BGH einfach tatsächlich so, wie es jeder Volljurist irgendwann mal gelernt hat?;)

    Sicherlich: dass nur zwei statt fünf die gesamte Akte lesen, mag im ersten Moment Entsetzen hervorrufen. Vielleicht gäbe es auch mehr Kontrolle, wenn drei oder fünf oder zwanzig die Akte lesen (und ggf. Sondervoten einreichen) würden. Richtig ist sicherlich, dass die Justiz in ihren Sorgfaltsanforderungen an andere nicht kleinlich ist. Andererseits: sauberes juristisches Arbeiten sollte auch mündlich funktionieren, manchmal funktioniert es in der persönlichen Auseinandersetzung mehrerer (natürlich guter und engagierter) Juristen besonders gut. Dass nicht alle alles gleichmäßig sorgfältig vorbereiten müssen, damit das Gremium sich insgesamt eine fundierte Meinung bilden kann, dürfte allerdings vom Grundsatz her in jedem mehrköpfigen, nach dem Kammer-/Senatsprinzip arbeitenden Spruchkörper so sein. Ob dadurch tatsächlich Rechte massiv verkürzt werden, wage ich allerdings zu bezweifeln. Denn Schwächen im Vortrag einer Partei kann man auch so recht gut erkennen. Und jedenfalls auf erstinstanzlicher Ebene wird im Bedarfsfall gerne zu dritt in die Akte geguckt (deshalb ist die Beherrschung der Blattzahlen eine wichtige Aufgabe des Berichterstatters).

    Letzten Endes hängt es daran, ob der Rest der Kammermitglieder dem Berichterstatter und dem Vorsitzenden vertraut und vertrauen darf, ob die den Sachverhalt ordentlich erfasst haben. Vielleicht darf man beim BGH schon eine gewisse Qualität der beteiligten Juristen voraussetzen.

    Und man darf nicht vergessen: auch Unternehmen, Großkanzleien, oder jede, der eine komplexe Datenmenge zu sichten, zu verwalten und zur Grundlage einer irgendwie gearteten Entscheidung machen muss, schafft dies nur, wenn die Wissenserfassung gebündelt, systematisiert und – ab einem gewissen Umfang – nicht nur einer einzelnen Person übertragen wird. Fehler passieren auch hier, sicherlich, aber ob es die Fehlerwahrscheinlichkeit wirklich signifikant erniedrigt, wenn sich fünf Leute dieselbe – schriftliche – Arbeit machen oder nicht, weiß ich nicht. Ob sich der Staat und den diese finanzierenden Bürger Juristen leisten wollen, die so arbeiten, und leisten sollten, vermag ich auch nicht zu entscheiden.

  3. Nachtrag:

    Bei allem Vertrauen in den BGH: drei von fünf wäre vielleicht zumindest mal ein Anfang. Mehrheitsentscheidung nur mit Aktenkenntnis?;)

Keine Kommentare zugelassen